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Kultur: Durch die Erde ein Riss

Was von 9/11 übrig bleibt: „September“ von Max Färberböck

Warum reagiert die deutsche Kritik so aggressiv auf diesen Film? Weshalb wird in Pressevorführungen hämisch gelacht? Wie kommt es, dass ein Rezensent „September“ als Irrflug bezeichnet, der beispiellos sei in der deutschen Filmgeschichte? Sicher: Der Film hat Mängel. Die Filmmusik wimmert pathetisch. Manche Dialoge loten die Grenzen der Peinlichkeit aus. Und natürlich betet der Film die 9/11-Floskel nach, die keiner mehr hören kann und die auch nicht mehr das ist, was sie mal war: „Nichts ist mehr, wie es war.“ Doch wer dem Film vorwirft, dass er alles falsch macht, hat nicht erkannt, dass er einiges richtig macht.

„September“ verknüpft die Geschichten von vier Paaren zu einem losen Erzählgewebe, das individuelle Seelenbilder nach den Anschlägen durchschimmern lässt. Dabei schneidet der Film quer durch die deutsche Gesellschaft: vom bürgerlichen Bankier (Justus von Dohnanyi) zum eingewanderten Pizzabäcker (Rene Ifrah), vom Feuilletonisten (Tagesspiegel-Autor Moritz Rinke) zum Polizeibeamten (Jörg Schüttauf). Deren Alltag wird begleitet und unterbrochen vom Stimmengewirr der medialen Tonspur: Blair, Sharon, bin Laden, Schröder, Bush.

Die Figuren, die Färberböck und seine fünf Mitautoren erdacht haben, sind nicht alle überzeugend, aber einige bleiben haften. Der Bankier Philipp etwa, der nicht sehen will, dass seine Frau leidet. Erst spät zeigt sich , dass er selbst ein Verletzter ist: Er hat Kollegen im World Trade Center verloren. Oder das Mädchen Lena (Nina Proll), das schwanger ist vom muslimischen Pizzabäcker. Sie droht, ihn aus der Wohnung zu werfen, wenn er sich nicht sofort gegen den Terror ausspricht. Als sie später die gemeinsame Wohnung durchsuchen lässt, spielt Färberböck dazu Bushs berüchtigte Rede ein: Entweder du bist mit uns oder gegen uns. Ein Riss geht durch die Welt.

In einer Szene sieht man eine Fernsehansagerin (Anja Kling) mit ihrer Mutter telefonieren. Sie erzählt fröhlich, dass sie nach den Anschlägen vier Sendungen mehr pro Woche habe. Doch die Mutter entgegnet nur, dass sich die Augen der Tochter verändert hätten. Vielleicht sollte man „September“ am besten als genau das verstehen: als Reflektion über veränderte Blicke. Der Film wagt sich an die Frage, wie sich Wahrnehmungen unter Schock verlagern und Blicke durch sekundäre Traumata neu zentriert werden. Das ist viel.

Broadway, CinemaxX Potsdamer Platz, Filmtheater am Friedrichshain, Hackesche Höfe, Neues Off

Julian Hanich

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