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Kultur: Durs Grünbein im Interview: Gottfried Benn schmort in der Hölle

Durs Grünbein, geboren 1962 in Dresden, hat schon 1994 den renommiertesten deutschen Literaturpreis, den Georg-Büchner-Preis, erhalten. Dass die FAZ damals ausrief: "Seit dem frühen Hofmannsthal hat es in der deutschen Poesie keinen vergleichbaren Götterliebling mehr gegeben!

Durs Grünbein, geboren 1962 in Dresden, hat schon 1994 den renommiertesten deutschen Literaturpreis, den Georg-Büchner-Preis, erhalten. Dass die FAZ damals ausrief: "Seit dem frühen Hofmannsthal hat es in der deutschen Poesie keinen vergleichbaren Götterliebling mehr gegeben!" - das hängt ihm bis heute nach. Grünbein glänzte im folgenden durch seine poetologischen Essays. 1999 erschien der Gedichtband "Nach den Satiren" - eine Parallelgeschichtsschreibung zwischen der römischen Antike und dem heutigen US-Imperium. Grünbein lebt in Berlin.

Die Frage, an wen sich der Lyriker eigentlich wendet, ist nie wirklich beantwortet worden. Ist das Gedicht vor allem ein Selbstgespräch, oder ist es doch direkt an einen Leser gerichtet? Sie haben in diesem Zusammenhang auf Ossip Mandelstams Essay "Über den Gesprächspartner" hingewiesen.

Mandelstam wendet sich an einen unbekannten Leser aus der Nachwelt. Extrem ausgedrückt, sendet die Dichtung Signale aus wie zum Mars. Sie sucht, so weit wie möglich in den Außenraum und in die Außenzeit hinauszugehen, immer in der Hoffnung, dass dieses Signal irgendwann empfangen wird.

Ein Bild des Mandelstam-Essays hat viele Kreise gezogen: Das Bild, die Dichtung sei eine "Flaschenpost". Es wird im 20. Jahrhundert immer wieder zitiert werden. Mandelstam sagt, die Flaschenpost werde "im kritischen Augenblick" aufgegeben.

Mandelstam hatte, wie wir wissen, ein offizielles Publikationsverbot. Dann schrieb er das bekannte Epigramm gegen Stalin, und damit war nicht nur seine Dichterexistenz, sondern auch sein Leben in Gefahr. Wir wissen, wie dieses ungleiche Duell ausging. Ein Duell war es insofern, als Stalin genau wußte, wen er da für vogelfrei erklärte. Pasternak hat es ihm im Telefongespräch vorbuchstabiert: einen Meister. Sozusagen einen poetischen Facharbeiter. Das wiegt umso schwerer, als es im Bolschewismus durchaus die Vorstellung vom Spezialisten gab. Doch dieser besonders begabte Spezialist ließ sich einfach nicht in Dienst nehmen für die Absichten der Sowjetmacht. Darin liegt seine einzigartige Leistung. Er war ein Emigrant im eigenen Land, eine Waise im Allunionsmaßstab, wie Joseph Brodsky gesagt hat, sein treuester Schüler. Was immer er schrieb, konnte nurmehr Flaschenpost sein, eine Botschaft an Unbekannt, ohne Hoffnung auf Ankunft aufgegeben und nur noch mündlich weitergereicht, dank des guten Gedächtnisses seiner Freunde und der Lebensgefährtin Nadeshda Mandelstam. Das Interessante ist, dass er 1913 exakt die Situation beschreibt, in die er dann in den dreißiger Jahren gerät.

Was verstehen Sie unter dem "kritischen Augenblick"?

Eine schockhafte Erfahrung, die nicht mehr unmittelbar und vor allem nicht im munteren Plauderton weitergegeben werden kann. Also adressiert man sie an die Ferne, an einen, der erst noch geboren wird, wie es bei Kleist heißt. Der kritische Augenblick ist offenbar eine Erfahrung der Einzigartigkeit der eigenen Lebenssituation. Er kann selbst in einer freien Gesellschaft auftauchen: wenn man sich allgemein von Langeweile und Geschwätz umzingelt fühlt, etwa in einer vollkommen medialisierten Welt. Der kritische Augenblick tritt übrigens erst auf, wenn die Gesellschaft in der Krise ist. Natürlich hat ein Götterliebling wie Goethe den kritischen Augenblick so nicht gekannt.

Damit sind wir in der Zwickmühle zwischen Dichtung und Gesellschaft.

Der späte Goethe hatte wohl eine Ahnung davon. Besucher der letzten Jahre haben da einen leicht resignativen Ton heraushören wollen, ein Gefühl der Vergeblichkeit, auch wenn er noch immer meinte, der Sinn seines Lebens sei der Triumph des Reinmenschlichen gewesen. Der zweite Teil des Faust ist eine einzige Anklage der Geschichte mit ihrer Tendenz zu Beschleunigung und Verschrottung. Plötzlich steht der Mensch da als Feind des Menschlichen. Er erschrickt vor sich selbst und ahnt die Krise, in die die moderne Menschengemeinschaft geraten könnte. Da auf einmal wird ihm klar: Ich teile hier Dinge mit, die derart monströs sind und radikal, dass ich nicht erwarten kann, dass auch nur irgendeiner meiner mitlesenden Zeitgenossen, bis hinauf zu den gebildeten Ständen, mich noch versteht. Deshalb versiegelt er sein Produkt, und gibt den zweiten Teil des "Faust" als Flaschenpost an die Zukunft auf.

Da fängt also die Moderne an: beim Adressieren an eine unbekannte Nachwelt.

Mit etwas Übertreibung könnte man sagen: mehr als 2000 Jahre lang war Literatur ein Spiel, das nach den Regeln der Immanenz funktionierte, als hochartifizielle Botschaft, die in geschlossenen Kreisen zirkulierte. Zumeist schrieb und adressierte der Dichter an seinesgleichen oder an die Ansprechpartner der Macht, an die Eliten, die offiziellen Vertreter der Kultur. Erst mit der Aufkündigung dieses Bundes, von welcher Seite auch immer, wird es brisant. Das Wort mag seinen Ort bewahren, seine Herkunft, aber es verliert seinen Orientierungssinn, seinen gesellschaftlichen Vektor. Das ist ein Verlust zugleich und ein Gewinn. Hier eben zeigt sich der Sprung in die Literatur der Moderne. Sie macht uns, zum ersten Mal vielleicht, zu souveränen Lesern. Indem sie uns, jeden Einzelnen, in der Vereinzelung anspricht, erlaubt sie, dass jeder Einzelne aus dieser Vereinzelung heraus sich gemeint fühlt und die gesamten Botschaften der Weltliteratur empfängt. Man könnte den Begriff der Moderne auch umkehren und sagen: in dem Maß, wie sie über das Ziel hinausschießt, gab es immer schon moderne Literatur. Sie tritt auf, wo immer die unmittelbaren Empfänger, die Kriegergemeinschaft, das Personal bei Hof, das gebildete Publikum übersprungen wird und das Wort autonom wird und sich ins Dickicht der Einsamkeit schlägt. Schreiben, ohne zu wissen, ob und bei wem es ankommt, ist die Grundbedingung jeder modernen Literatur von Kallimachos bis Kafka.

Es gibt Selbstzeugnisse von Schriftstellern, die ungefähr demselben Wahrnehmungsbereich entstammen wie die Mandelstams, aber ganz anders mit dem Auf-sich-selbst-Zurückgeworfensein umgehen. Der große Gegenpol ist Gottfried Benn, mit seiner dezidiert "monologischen Lyrik". Ist Benn angesichts der beschriebenen Situation nicht konsequenter?

Mandelstam sagt an einer Stelle, dass die Stimme oder das Sprechen selbst zum Ereignis wird. Dieses Ereignis zeigt sich im Unerwarteten, darin, dass das, was jetzt und hier gesagt wird, zum ersten Mal so gesagt wird, als absolut Subjektives. Einer der radikalen Schlüsse daraus ist die Lyrik als Monolog, wenn man so will eine Schwundstufe, die Reduktion aller Metaphysik auf den Einzigen und sein Eigentum, im schlimmsten Fall also der reine Solipsismus. Es gibt in der Dichtung des späten neunzehnten Jahrhunderts die Tendenz zum Kristallinen und Skulpturalen der Wortgebilde. Aus der Einschließung der Welt ins Subjekt resultiert die Mimikry ans Anorganische. Das Wort will Materie werden und sonst nichts. Das gelingt aber immer nur momentweise, unter Aufgabe des Bewusstseins. Die Schönheit gewisser Gedichte rührt daher, dass sie wie Skulpturen im Ideenraum stehen, der Leser kann sie von allen Seiten betrachten und bleibt mit seinen alltäglichen Gefühlen und Gedanken außen vor. Ihre Oberfläche ist so sehr verdichtet und abgeschlossen, dass das Gedicht zum schönen Fremdkörper wird, wie bei manchen der Symbolisten. Benn hat, soweit ich weiß, den Dialog niemals ganz aufgekündigt, auch wenn nicht immer klar ist, mit wem er da spricht.

Der Gegensatz zu Mandelstam ist aber doch erheblich.

William Carlos Williams sagt: The poem is the item. Das Gedicht ist ein Gegenstand. Dies kann ein Kunstobjekt sein, es kann aber auch ein ganz praktischer Gegenstand sein, eine Gießkanne oder ein Faustkeil, ein Werkzeug, das man in der Hand wiegt. Darin liegt einer der großen Unterschiede: entweder ist Artefakt im Sinne der Archäologie oder Angebot zum Dialog, entweder verbales Objekt, reines Klanggebilde oder Gedankenspur, wörtliche Rede, die das Gespräch in Gang hält oder als Droge und Schmerzmittel Anwendung findet. Zumindest Mandelstam hat bis zuletzt den Dialog gesucht, das Gespräch mit den Lebenden und den Toten. Sein Vers lauscht ins Körperinnere und sucht den Kontakt zur Außenwelt. Noch aus der innersten Verbannung und Isolierung heraus hielt er Zwiesprache. Und dann kommt einer wie Benn, desillusioniert bis in die Knochen und zieht sich mit seinen Versen ins Private zurück. Eines Tages wird das Gedicht zum Splitter im Fleisch der Gesellschaft, etwas für Ärzte und Spezialisten. Es läßt sich dann nur noch operativ entfernen, aber aufheben und ins Gespräch verstricken läßt es sich nicht.

Eine Ästhetik der Kälte.

So lautet die Formel. Es ist doch merkwürdig, kein einziges Mandelstam-Gedicht ist jemals kalt. Und das liegt nicht nur an der Stallwärme des Russischen, an dieser kindlichen Klugheit. Das Bennsche Gedicht, das statische Gedicht, bettelt nicht um Gefühle, es ist derart abgeschlossen, dass es den Leser tatsächlich nicht mehr braucht. Der Dichter scheidet lauter Nierensteine aus, und die kann man dann in die Vitrine stellen und künstlich beleuchten.

Sie selbst wurden früh als Bennscher "Hirnhund" bezeichnet. Man kann in Ihren Gedichten durchaus Anknüpfungspunkte sehen.

Die Mandelstamsche Position ist mir von Anfang an viel näher gewesen. Bis heute geht mir das tapfere Gemurmel dieses intelligenten Weltkindes nach. Mandelstam spricht tatsächlich aus der Mitte des Universums, so wie Goethe es sich erträumt hat. Bei ihm wird alles beseelt. Ich weiß nicht, was Benn gemeint hat, als er vom Nüssebewispern sprach. Mandelstam jedenfalls bewispert seine Umwelt, alle die kleinen und großen Dinge in Natur und Gesellschaft, vom Grashalm übers Telefon bis hin zur stattlichsten Architektur. Er haucht allem Leben ein und tränkt es mit Psyche und Zeit. Alles ist ihm zum Weinen vertraut.

Ist die Haltung Benns nicht suggestiver?

Suggestiv für die Erkälteten, die im Frost Erstarrten. Es ist alles eine Frage der Temperatur und des Temperaments. Man kann den Lemuren Gute Nacht sagen und mit den Reptilien aufstehen, und man kann in den Steinen eines Gebäudes noch die Hände der Erbauer spüren und ihren Atem.

Benn entspricht doch radikal einer gesellschaftlichen Situation, einer Erfahrung.

So ist es. Das gehört zu den Verhaltenslehren der Kälte, wie die Meister der Neuen Sachlichkeit sagen würden, eine sehr deutsche Haltung. Ich glaube, dass Benn in die Falle ging mit seinem martialischen "Erkenne die Lage". Für eine Gesellschaft der Kälte und der Entfremdung ist Zynismus die angemessene Reaktion. Es geht immer darum: soll man dem Gegenstand ähnlich werden und ihm die kalte Schulter zeigen oder soll man sich ihm anschmiegen und ihn beseelen, selbst wenn man dabei zugrunde geht.

Während bei Mandelstam sogar die Utopie einer besseren Gesellschaft im Hintergrund aufscheint.

Benn weiß, dass das Spiel vorbei ist. Seine Schreibsituation ist die des Rien ne va plus.

Ist das nicht realistischer als die Utopie?

Benn geht davon aus, dass Ausbeutung eine Funktion des Lebendigen ist. Damit ist klar, dass es selbst in Lichtjahren keine andere Gesellschaft geben wird als eine der Ungleichheit und der Ausbeutung oder eben einseitiger Verwertung des Mehrwerts. Es wird immer Sklaven und Herren geben, und es wird immer Börsenmakler und Arbeitslose geben. Die im Glanz, in den prächtigen Villen, und die da unten, wo die schweren Ruder der Schiffe streifen, wie Hofmannsthal sagt, die in den Straßen verkommen unter ihren verlausten Decken. Benn führt vor, wie man schreibt, wenn man weiß: Es wird nie Gerechtigkeit, Gleichheit, Brüderlichkeit und damit Wärme geben. Wer so denkt, braucht keinen Gesprächspartner. Was bleibt, ist die Sehnsucht, haltbare Wortgebilde zu schaffen: Das Gedicht als funkelndes Meteoritenstück, das da draußen im kalten All herum fliegt und aus den Bullaugenfenstern der Raumschiffe betrachtet werden kann.

In den sechziger, siebziger Jahren im Westen, als Gleichheitsgedanken und utopische Ideale das tägliche Brot waren, galt Benn als persona non grata. Heute scheint es so, als hätte er die letzten Wahrheiten verkündet. Damit verglichen wirkt Mandelstams Suche ziemlich entrückt.

Erledigt hat sich beides nicht. Wahrscheinlich ist das eine wie das andere gleich wahrhaftig und gleich real. Denn die Gesellschaft kann so kalt werden wie sie will, allein durch den biologischen Reproduktionsprozess reproduziert sich immer wieder erneut die Sehnsucht nach einer Besserung. Man könnte sagen, leider ist Benns Position im Moment realistischer. Bis heute ist sie wahrscheinlich die letztgültige Durchsage. Obwohl - wir reden jetzt vor allen Dingen immer von dem Benn der statischen Gedichte. Wir reden nicht über den Benn, den es auch gab - und daran zeigt sich schon, dass so etwas zumindest innerhalb eines Menschenlebens nie absolut zu betreiben ist - den Benn, der immer wieder bis fast zum Kitsch Sehnsuchtsimpulse aussendet, geradezu Schlager produziert. Es sind übrigens oft gerade diese Gedichte, die Schule gemacht haben. Jede neue Enttäuschung gebiert das Verlangen nach sofortiger Illusion. Von diesem Teufelskreis lebt die ganze Unterhaltungsindustrie.

Die monologische Lyrik steht ja am Ende des Bennschen Lebens und ist wohl so eine Art conclusio. Aber gerade in dieser Zeit, als er die monologische Lyrik theoretisch formuliert, schreibt er auch jene Gedichte, die sich lustvoll dem Kitsch annähern. Da muss es einen Zusammenhang geben.

Das könnte man auch am Beispiel Hofmannsthals zeigen. In Überwindung der Krise, wie sie im Brief des Lord Chandos zum Ausdruck kommt, hört er auf, Gedichte zu schreiben und beliefert die Operette mit schwungvollen Libretti, mit diesem Leichten, das so schwer zu machen ist. Er war einer der klügsten und talentiersten Dichter der österreichischen Moderne. Sehenden Auges desertiert er aus der Einzelzelle der Lyrik ins Opernhaus und versorgt sein bürgerliches Publikum, den Rest der versprengten Hofgesellschaft, mit dem Traumstoff der leichten Muse. Genau da liegt auch die Ursache dessen, was Sie den Bennschen Kitsch nennen, jenes Element von schlagerseliger Versöhnung, das einer wie Rühmkorf mit den Zeilen verspottet: "Die schönsten Verse der Menschen / Sind die Gottfried Bennschen". Die Übermacht der enttäuschten Träume steigert das Verlangen nach dem Rauschgift der Poesie ins Unermessliche. Was die Begehrensstruktur des Kapitalismus betrifft, so ist es noch immer dasselbe Lied. Je härter die Verhältnisse, je trostloser und kälter, umso mehr Rauschgift wird gebraucht, um den permanenten Druck auszuhalten. So wird der Lyriker schließlich zum Rauschgiftdealer.

Da greift Benn auch theoretisch ein bisschen kurz.

Man könnte radikal gegen Benn fragen: Warum noch schreiben? Weil - und jetzt kommt eben der utopische Überschuss - offenbar das Leben des Einzelnen immer noch größer und vielgestaltiger ist als die Megäre Gesellschaft. Das heißt, wenn einer wie Benn nach Feierabend die Tür der Arztpraxis schloss, konnte er aus der Schublade mit den Rezepten endlich das Notizbuch hervorziehen und anfangen, seine Gedichte zu schreiben. Nachdem der letzte Patient gegangen war, blieb nurmehr der Arzt zurück, der im Selbstversuch weitermachte. "Ärzte im Selbstversuch" hieß eins meiner Lieblingssachbücher damals im Osten. Da wurden die heroischen Experimente beschrieben, mit denen die Pioniere der Zunft an der Vermehrung des medizinischen Wissens arbeiteten, oft unter Aufgabe der eigenen Gesundheit. Sie spritzten sich irgendein neues Serum oder schnitten sich beherzt ins eigene Fleisch. Manche operierten tatsächlich bei vollem Bewusstsein an ihren Eingeweiden. Ein solcher Arzt im Selbstversuch war für mich immer der große Benn. Jeden Versuch, ihn lächerlich zu machen oder seine Leistung für die deutsche Poesie in Abrede zu stellen, muss ich entschieden zurückweisen. Benn war auf seine Weise genauso mutig und wegweisend wie einer dieser verrückten Selbstverstümmler, die mit ihren Versuchen der Menschheit dienten. Allein darum, weil er den Vers-Trieb, das Prozessieren gegen sich selbst nie unterdrückt hat, bleibt dieser Mann ein Vorbild für alle Zeiten. Alle seine Selbstauskünfte deuten darauf hin, dass er nicht restlos erklären konnte, warum dieser Trieb, in lyrischen Mustern und Formen sich auszudrücken, in ihm wachblieb. Benn ist trotz aller gegenteiligen Beteuerungen immer noch der Romantiker, der den Mund einfach nicht halten kann.

Sie wollen darauf hinaus, dass bei den scheinbar unvereinbaren Gegenpositionen von Mandelstam und Benn der Ausgangsimpuls doch derselbe ist.

Unter anderem deshalb, weil der Grundwiderspruch des Einzelnen zur Gesellschaft nie aufzuheben ist. Lyrik bleibt ein Brückenbau. Und da ist noch etwas, das sich nicht einfach auflösen läßt. Mandelstam hat es in seinem Essay über Dante zu formulieren versucht. Mit dem Dichter der Göttlichen Komödie verschieben sich ein für allemal die Koordinaten des Schreibprozesses. Bei ihm wird das dialogische Prinzip zur inhärenten Formel. Der Dichter selbst ist ganz Ohr für die vielen, widerstreitenden Stimmen, er lauscht den Verdammten und den Erlösten, und er lässt sich an die Hand nehmen von einem, der ihm vorausging, der größer und weiser ist als er selbst. Vergil zeigt ihm die Reiche der Welt. Die Göttlichen Komödie wird zur Inszenierung des Dialogs eines christlichen Dichters mit einem heidnischen Kollegen. Der Leser wird hier zum eingeschlossenen Dritten, indem er dem Dialog zweier großer Gestalten der Weltliteratur lauscht.

Da fällt es schon extrem schwer, eine Gemeinsamkeit mit Benn herauszudestillieren!

Einer wie Benn hätte ein großes Epos des 20. Jahrhunderts schreiben können, wäre er wie T.S. Eliot durch die jüngste Höllenlandschaft gegangen, wie dieser im Schlepptau Dantes. Das heißt, die Grundsituation des literarisch inszenierten Gesprächs hat sich überhaupt nicht verändert. Es wäre doch vorstellbar, dass Benn Dante zum Kronzeugen der christlichen Kultur genommen hätte (mit einer Verbeugung vor Nietzsche), im Gespräch mit ihm, beim Spaziergang durch die verwüstete Welt der Moderne versucht hätte, sein pessimistisches Weltbild zu entwickeln. Rein theoretisch, literaturtheoretisch wäre das möglich gewesen.

Benn hat sich aber halt doch dazu entschieden, als Einzelkämpfer durch die Linien zu kommen.

Das ist eine Frage der Ausdauer. Im zwanzigsten Jahrhundert wird selbst das apokalyptische Denken zusehends kurzatmiger. Wir befinden uns heute in einer seltsamen Synthesephase. Scheinbar lässt sich das alles, und zwar von jedem Dichter, immer nur in Bruchstücken darstellen, immer auf dem Sprung vor der nächsten Katastrophe. Mit einem Mal gerät die eine Zeile antik und beschwört einen neuen noch unbekannten Polytheismus, hinter dem sich der elan vital versteckt, und schon die nächste ist wieder einem einzelnen Gott verpflichtet oder gibt sich aufgeklärt und moralisch, während die dritte Zeile bereits einen radikalen Atheismus predigt. So geht es immer munter weiter, im Karussell herum.

Und Mandelstam und Benn werden postmodern mitgeschleift.

Ich hoffe doch, dass die Zukunft Mandelstam gehört und nicht Benn.

Wie vage ist diese Hoffnung?

Entwerfen wir doch mal ein imaginäres Epos der Zukunft. Da würde Benn spätestens im fünften oder sechsten Gesang in der Hölle der Monologisten schmoren. Beckett hat diese Position in der Figur des Belaqua, die wiederum Dante entlehnt ist, genau beschrieben. Dieser Belaqua ist ein Wesen, das in einer Felsnische hockt. Selbstzufrieden, genügsam im Mangel und abgeschlossen vom Rest der anderen dämmert er in der Hölle sehr philosophisch vor sich hin. Das wäre dann die Bennsche Position. Benn ließe sich in der Rolle des Belaqua porträtieren. Es wäre ein Scherenschnitt, wie ihn die Goethezeit liebte.

Und wo würde man in dem imaginären Epos Mandelstam finden?

Mandelstam ist immerfort unterwegs. Er hat recht bald die Hölle durchquert. Nun hängt er irgendwo auf dem Läuterungsberg fest und blickt hinaus oder voraus in die Welt des Paradieses. Denn das Paradies ist der Horizont aller Dialoge. Entgegen der landläufigen Meinung wird die Flaschenpost schließlich nicht aus dem Meer gefischt, sondern aus dem gemeinsamen Himmel.

Die Frage[an wen sich der Lyriker eigentlich wend]

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