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Kultur: Ein Messer, das den Himmel teilt

Dieses Dach! 106 mal 111 Meter messend, schiebt es sich in 23 Meter Höhe über Uferpromenade und See, freitragend, scheinbar endlos.

Dieses Dach! 106 mal 111 Meter messend, schiebt es sich in 23 Meter Höhe über Uferpromenade und See, freitragend, scheinbar endlos.Steht man darunter, so spiegelt sich das Wasser des Vierwaldstätter Sees in den Aluminiumplatten der Unterseite und läßt die Konstruktion immateriell erscheinen; steht man in der Nachmittagssonne auf einem der nahen Bootsanleger, so verbinden sich technische Eleganz und Bedrohlichkeit.Vom Ufschöttli aus gesehen, einer Halbinsel im Südwesten, ragt der metallene Schirm bergend über die Kulisse der Altstadt; vom nördlichen Seeufer aus wird die Dachplatte, die von nahem gesehen wie ein Messer den Himmel durchteilt, zur kupfernen Mütze.

Die mächtige Horizontale, die Jean Nouvels Kultur- und Kongreßzentrum Luzern überlagert, verbindet und trennt.Am Seeufer ist dem französischen Architekten eine irritierende Inszenierung gelungen.Was aus der Nähe maßstabsprengend erscheint, fügt sich aus der Ferne in die Silhouette der Stadt ein.

Luzern, mit seinen 58 000 Einwohnern eine innerschweizerische Kleinstadt, verdankt seine Attraktivität der grandiosen Lage am Vierwaldstätter See mit majestätischer Bergkulisse.Doch die den modernen Verkehrsmitteln geschuldete Mobilität bedroht lange schon das Gastgewerbe.Mit der Gründung der "Internationalen Musikfestwochen Luzern" versuchte die Stadt 1938, dem entgegenzusteuern; nicht zuletzt aus Deutschland vertriebene Künstler wie Fritz Busch, Arturo Toscanini und Bruno Walter begründeten den Ruf des sommerlichen Festivals, so daß sich Luzern neben Bayreuth und Salzburg als Stätte der klassischen Musik etablieren konnte.

Die neuerliche Baisse des Tourismus in den achtziger und neunziger Jahren ließ die Idee eines neuen Konzerthauses entstehen, das den akustisch wie ästhetisch unbefriedigenden und überdies zu kleinen Saal des Kulturhauses aus dem Jahr 1933 ergänzen sollte.In einem internationalen Wettbewerb des Jahres 1989 konnte sich Jean Nouvel, der kurz zuvor mit dem Pariser "Institut du Monde Arabe" Furore gemacht hatte, mit der Idee durchsetzen, das Kunsthaus mit einer gigantischen Dachstruktur zu überdecken und den Neubau des Konzertsaals in schiffsartiger Form im Uferbereich des Sees gleichsam vor Anker gehen zu lassen.

Die Brillanz des nach jahrelangen Verzögerungen ausgeführten zweiten Entwurfs verleiht den Zweifeln am ersten Berechtigung.Die plumpe nautische Metaphorik - von Nouvel zeitgleich am Kongreßzentrum für Tours verwendet - ist einem kompakteren und zugleich abstrakteren Projekt gewichen, dessen Plazierung allerdings den Abriß des alten Kunsthauses voraussetzte.Als eine große Werft versteht Nouvel seinen Komplex, der aus dem Konzertsaal im Osten, einem Mehrzwecksaal in der Mitte und dem Kongreßzentrum und Kunstmuseum im Westen besteht.Zwei schmale Kanäle, die das Wasser des Vierwaldstätter Sees in den Bau hineinleiten, trennen die drei in unterschiedlichen Materialien ausgeführten Baukörper; ein rückwärtiger, zur Post hin orientierter Service- und Büroflügel verbindet sie.Während das mit filigranen Gitterstrukturen verkleidete Kongreßzentrum und der Mehrzwecksaal noch auf ihre Fertigstellung warten, konnte der Konzertsaal nun im Rahmen der diesjährigen Internationalen Musikfestwochen in Betrieb genommen werden.Zusammen mit dem amerikanischen Akustiker Russell Johnson entwickelt, bietet der nach dem Schuhschachtelprinzip aufgebaute Raum mit seinen vier Rängen und 1840 Plätzen das Optimum an heute möglicher Klangsteuerung.Etwa 50 massive, auf den Rückseiten der Ränge installierte, drehbar gelagerte Wandelemente erlauben es, dem Saal mit seinen 20 000 Kubikmetern einen weiteren Schallraum von knapp 10 000 Kubikmetern hinzuschalten.Allerdings scheint der Architekt im Inneren angesichts der Forderungen des Akustikers kapituliert zu haben; als ästhetische Meisterleistung ist der Saal nicht zu werten.Auch Nouvels ursprüngliches Farbkonzept einer tiefblauen Höhle wurde nach Intervention von Musikern und Dirigenten verworfen.Ob der helle Gips, das Holz des Podiums, das Blau der Bezüge und die rot leuchtenden Echokammern einen überzeugenden Farbklang ergeben, darf nach den ersten Beleuchtungsproben bezweifelt werden.Aber es gibt schließlich die Foyer- und Erschließungsbereiche, in denen sich Nouvel als ein Meister der subtilen Inszenierung erweisen kann.Wie auch am (blechverkleideten) Äußeren des Konzertsaalbaus dominieren hier die dunklen Farbtöne - bordeauxrot, flaschengrün, dunkelblau.Über gangwayähnliche Verbindungsgänge gelangen die Besucher in den Saal.Schlitzartige Fenster erlauben Ausblicke auf die Landschaft ringsum - ein Prinzip, das Nouvel im Hauptfoyer perfektioniert hat.So wird das Auf- und Abgehen während der Pause zu einer Abfolge unterschiedlicher Bilder.Nur die über eine Treppe zu erreichende Terrasse bietet die Totale, einen Panoramaschwenk über die Stadt und ihre Umgebung.

204 Millionen Franken wird das Kulturzentrum gekostet haben, wenn es im nächsten Jahr fertiggestellt ist.Aufgebracht wurde diese Summe zu einem entscheidenden Teil durch private Spender.Ein derartiges Engagement ermutigt; und des Muts wird es weiterhin bedürfen, denn allein mit den Internationalen Musikfestwochen wird sich der Komplex nicht wirtschaftlich betreiben lassen.Die Schiffe, die unter dem gewaltigen Dach der Kulturwerft entstehen, haben ihren Stapellauf noch vor sich.

HUBERTUS ADAM

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