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Die polnische Sopranistin Marcelina Román übernahm die Titelpartie. 

© Marta Zbieron

Eine Entdeckung: das Oratorium „Ruth“ : Der Liebe Macht

Von der Rettung einer Migrantin: Der Philharmonische Chor Berlin und das Brandenburgische Staatsorchester führen Georg Schumanns vergessenes Oratorium „Ruth“ auf.

Die Klarinette klagt, der Chor wütet, die Geigen spinnen Waldwebfäden, Julie-Marie Sundal steuert ihren glutvollen Kontra-Alt bei, Marcelina Román (Foto) ihren betörenden, bronzefarben schimmernden Sopran. Turbulente Volksszenen wechseln mit bukolischer Idyllik, ekstatischen Liebesszenen und monumentalen Naturtonmalereien. Wagners „Tristan“ lässt grüßen, Strauss und Mendelssohn ebenso: So sinnlich und süffig sind biblische Oratorien selten.

Noch dazu eins, das heute keiner mehr kennt. Die alttestamentarische Geschichte der Migrantin Ruth, die mit ihrer Schwiegermutter Naomi nach tragischen Schicksalsschlägen aus dem Exil in die Heimat zurückkehrt und dort zunächst übel diskriminiert wird, bevor die Liebe sie trifft, hat Georg Schumann vertont. Der langjährige Direktor der Singakademie zu Berlin schuf damit eins der populärsten Werke am Wendepunkt zwischen Spätromantik und musikalischer Moderne: Nach der Uraufführung 1908 wurde „Ruth“ ein veritabler Welterfolg.

Der von Jörg-Peter Weigle geleitete Philharmonische Chor Berlin bewegt sich gerne abseits der Trampelpfade des Repertoires.

© Martin Walz

Bis die Nazis das Oratorium ächteten, nachdem zunächst versucht worden war, das jüdische Sujet zu „neutralisieren“. Dafür wurde das Geschehen nach China verlegt und der finale Jubelchor mit einem Propagandatext versehen.

Es ist dem Philharmonischen Chor Berlin zu verdanken, dass das auch nach 1945 gründlich vergessene, gut zweistündige Werk allmählich reanimiert wird. 2003 hatte der Chor das Oratorium nach fast 60 Jahren erstmals wieder aufgeführt, inzwischen wurde „Ruth“ auch vom Göttinger Vokalensemble und der Hamelner Kantorei interpretiert – und nun wieder vom Philharmonischen Chor unter Leitung von Jörg-Peter Weigle, zusammen mit dem Brandenburgischen Staatsorchester Frankfurt.

Was für mitreißende, anrührende, aber auch irritierende Musik. Mitreißend wegen des Actionpotentials, wenn der bestens disponierte und bis ins Pianissimo exquisit differenzierende (nur manchmal schwer verständliche) Chor in der Philharmonie zischelnd und hohnlachend jene Gerüchteküche vor Augen führt, in der eine Menschenmenge zum Mob wird. Anrührend wegen des empathisch barmenden, seufzenden Orchesters, allen voran die Solo-Klarinette mit ihrem eingängigen Hauptthema, und der Schauerromantik im „Chor der nächtlichen Geister“. Anrührend auch wegen des Liebesduetts zwischen Ruth und dem Feldbesitzer Boas (Hanno Müller-Brachmann mit sonor-gütigem Bariton), der in der mittellosen, Ährenabfall auflesenden Geflüchteten die Frau seines Lebens erkennt. Und irritierend, weil sich das auch tonal so harmonische Happy-End in der puren Apotheose erschöpft. Ein bisschen ist es so, wie wenn Wagners Isolde nicht in den Liebestod, sondern im Brautkleid zum Altar geführt würde.

Dennoch sollte „Ruth“ unbedingt öfter erklingen, schon wegen des utopischen Moments, wenn jüdische Synagogengesänge und christlich-abendländisches „Amen“ sich zu Beginn des zweiten Oratorienteils miteinander verweben. Friedliche Koexistenz statt brutaler Auslöschung in der Shoah: eine „road not taken“, auch in der Musikgeschichte.       

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