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Kultur: Eine Frage der Moral Zacken sollen wachsen

Zwischen Washington, Berlin und Paris droht ein Zerwürfnis über den Irakkrieg. Doch Bushs USA bräuchten Europas Skrupel und Ideale ARCHITEKTUR

Die politische Diskussion in Berlin war in den letzten Monaten von einer merkwürdigen Asymmetrie gekennzeichnet. Zwar drehte sie sich um die transatlantischen Beziehungen, doch eigentlich ging es um innenpolitische Fragen. Ist die Bundesrepublik endlich reif, um sich von Amerika, dem großen Bruder und Vorbild, absetzen zu können? Oder sind solche Schritte das Ergebnis eines lange im Verborgenen wirkenden Antiamerikanismus? Manchmal verlagerte sich die Diskussion auch vom Psychologischen ins Politische. Wenn die Welt mittlerweile von nur noch einer Supermacht beherrscht wird, kann ein einzelnes Land dann eine abweichende Meinung riskieren?

Nun bin ich die letzte, die die Wichtigkeit politischer und psychologischer Analysen bestreiten würde. Aber was fehlt, ist eine Diskussion über Moral. Denn einzig nach moralischen Kategorien lässt sich eine amerikanische Regierung analysieren, gegen die sich McCarthy und seine Ära harmlos ausnehmen – jedenfalls in den Augen älterer Amerikaner, die sich noch an diese Zeit erinnern.

Niemals zuvor hat eine Gruppe, die so wenige Menschen repräsentiert, über so viel Macht verfügt; nie hat sie dabei so unverfroren Ideale jedweder Art hintan gesetzt. Selbst ein so belangloses internationales Abkommen wie das über ein UN-Kinderparlament lehnte die Bush-Regierung ab. Es geht auch weit über diplomatische Gepflogenheiten hinaus, dass Partnerländer eingeschüchtert werden, nur damit sie die amerikanische Position akzeptieren. Im eigenen Land gilt der Regierung die politische Karriere von zwei konservativen Afroamerikanern oder die Tatsache, dass hier und da ein Hispano eine hohe Position bekleidet, als Deckmantel für die Tatsache, dass keine Regierung zuvor einen so geringen Teil der US-Bevölkerung repräsentierte.

In den USA wird zunehmend moralisch diskutiert. „Nicht in unserem Namen“: So nennt sich eine Gruppe, deren Erfolg in der Kompromisslosigkeit ihrer Botschaft begründet liegt, die schon in ihrem Slogan steckt. Eine Schlagzeile im kleinbürgerlichen „Boston Herald“ lautete kürzlich „Klassenkampf“. Und manche Großmutter fährt mit einem Aufkleber auf ihrem Mittelklasse-Wagen durch Washington: „Regime Change Begins at Home – Regierungswechsel beginnt zu Hause.“

Im September gaben mir viele Leute auf den Weg nach Deutschland die Bitte mit: „Danken Sie Schröder!“ Natürlich stammen solche Äußerungen aus dem liberalen, gebildeten Milieu. Aber auch ein ehemaliger Staatssekretär der Luftwaffe, ein Immobilienmakler aus Baltimore oder ein Dachdecker aus Boston äußerten ihre Entrüstung über die Bush-Regierung. Als ich in Chicago auf einen Zug wartete, verwickelten mich afroamerikanische Arbeiter in eine leidenschaftliche Diskussion über das Thema.

Wenn die Opposition derart weit gefächert ist, wieso kann Bush dann für sich beanspruchen, ein breites Mandat für seine Pläne zu haben? Die Republikaner haben die Stimmenmehrheit in beiden Häusern des Kongresses – die Mehrheit jener 40 Prozent erwachsener Amerikaner, die überhaupt an die Wahlurne gehen. Angesichts der Tatsache, dass in Windeseile Organisationen entstanden sind, die sich dafür einsetzen, dass das amerikanische System der checks and balances beibehalten wird, war die Wahlbeteiligung im November 2002 erschreckend gering. Aber wie soll man nach allem, was in Florida geschehen ist, einen politikverdrossenen Amerikaner noch dazu überreden, seine Zeit mit Wahlen zu verschwenden?

Immer öfter werde ich von den deutschen Medien gefragt, ob ich mich noch traue, offen Stellung zu beziehen. Die Antwort lautet: ja, natürlich. Selbst ein Buch wie „Stupid White Men“, in dem Michael Moore gegen die Bush-Regierung polemisiert, wurde in den USA ein Bestseller. Aber wenn solche Kritik möglich ist, warum hat dann der Widerstand gegen die gegenwärtige Politik so wenig Wirkung?

Die Frage ist falsch gestellt: Der Widerstand hatte durchaus Folgen. Ohne die Opposition im eigenen Land und im Ausland hätte Bush den Irak längst angegriffen. Ob die Opposition stark genug ist, einen Krieg abzuwenden, wird davon abhängen, ob sie in der Lage ist, gemeinsam aufzutreten. Es gibt drei Gründe, die den amerikanischen Widerstand schwächen. Der erste: Schon oft hat die Linke ihre Energien in internen Grabenkämpfen erschöpft. Man streitet sich darüber, ob es besser sei, sich im Ton zu mäßigen, um eine möglichst breite Koalition auf die Beine zu stellen, oder ob eine solche Taktik die eigene Position zu sehr schwäche. Wie in jeder politischen Auseinandersetzung ist es zweifellos wichtig, solche Fragen zu stellen. Aber wo so viel auf dem Spiel steht, darf man sich nicht darin verlieren.

Man darf zweitens nicht vergessen, dass die Amerikaner in einer sozialen Atmosphäre leben, die staatsbürgerliches Engagement nicht gerade fördert. Sogar für Angehörige der oberen Mittelschicht ist der Umfang, in dem Europäer über Zeit verfügen, ein unvorstellbarer Luxus: Wer zwei Wochen Jahresurlaub hat, kann sich glücklich schätzen. Und drittens: Die Medien bieten nur wenig Informationen, mit denen sich die Amerikaner auseinandersetzen könnten. Das Feuilleton der „New York Times“ ist zurzeit zwar eine erstklassige Quelle kritischer Kommentare. Aber auf den Nachrichtenseiten vermisst man die Informationsvielfalt, wie sie in Europa üblich ist.

Anstatt Bushs Politik zu unterstützen, haben sich viele Amerikaner einfach nur an sie gewöhnt. Ihre Einstellung selbst zu Wahlen ist von Zynismus geprägt. Dennoch – und trotz der tiefen Wunden, die der 11. September hinterließ – unterstützen den jüngsten Umfragen zufolge bloß 54 Prozent der Bevölkerung Präsident Bush. Und nur 30 Prozent unterstützen einen Irak-Angriff ohne Zustimmung der UN. Die Ablehnung der Europäer ist also von essenzieller Bedeutung, wenn es darum geht, einen Krieg noch zu verhindern.

Es geht also nicht um das „alte Europa“ gegen die Neue Welt, sondern um Ideale, die viele amerikanische Bürger mit den Europäern teilen. Wobei die Europäer, die ihren Widerstand antiamerikanisch intonieren, ein kurzes Gedächtnis haben. Unter der Clinton-Regierung begannen kluge Leute, einen amerikanischen Traum zu träumen: Plötzlich repräsentierte das Land eine frische, vitale, offene Welt, all das, wonach der Alte Kontinent sich sehnt. Zwei Jahre später hatte das Kaugummi das Saxofon als Ikone der amerikanischen Kultur abgelöst, und von der anderen Seite des Atlantiks wird der amerikanische Albtraum eines ignoranten Imperialismus auf alles und jeden projiziert. Aber zwischen Traum und Albtraum ist immer noch die Wirklichkeit – und obendrein die Hoffnungen, die uns verbinden.

Bushs moralische Rhetorik ist so leicht durchschaubar, dass man sich fragt, ob sie es nicht darauf abgesehen hat, uns alle in Zyniker zu verwandeln. Die „New York Times“ nannte die offiziellen Begründungen für einen Krieg „peinlich“. Bis heute sei trotz aller Bemühungen keine Verbindung zwischen Al Quida und dem Irak nachgewiesen, auch der Verweis auf Massenvernichtungswaffen erscheine unglaubwürdig angesichts von Nordkorea. Die Rhetorik der Bush-Regierung verletzt zwei Gerechtigkeits-Prinzipien, auf die die Amerikaner stolz sind: Fundamental im amerikanischen Recht sind die Ablehnung ungleicher Maßstäbe sowie der Grundsatz, dass die Schuld, nicht die Unschuld des Angeklagten bewiesen werden muss. Die Irak- und die Ölfrage sollen die amerikanischen Wähler davon ablenken, dass es den Republikanern in der Rekordzeit von zwei Jahren gelang, eine gesunde Wirtschaft zu ruinieren.

Europäische und amerikanische Kriegsgegner benutzen lieber politische als moralische Argumente. Angesichts der akuten Gefahr spricht nichts gegen die Berufung auf kollektives Eigeninteresse. Joschka Fischers Erklärung, dass ein Irak-Angriff den Kampf gegen den internationalen Terrorismus schwächen würde, wird von einem Plakat unterstrichen, dass in der amerikanischen Linken zurzeit die Runde macht. Es zeigt Osama bin Laden in der Uniform von Uncle Sam, der mit erhobenem Zeigefinger sagt: „I WANT YOU ... Ich möchte, dass ihr den Irak angreift. Verstärkt das Ressentiment der Moslems, destabilisiert eine Atommacht wie Pakistan... macht nur. Make my day.“

Während wir die Bush-Regierung zu überzeugen versuchen, dass ihre von Eigeninteresse gelenkte Perspektive gefährlich kurzsichtig ist, sollten wir langfristiger denken. Die Bürger einer globalisierten Welt tragen Verantwortung füreinander – und für die gemeinsamen Ideale von Gerechtigkeit und Würde. Den Tod irakischer Kinder als Teil einer weltpolitischen Strategie in Kauf zu nehmen – das verletzt all diese Aufgaben.

Kant schrieb, dass niemand sein Leben aus Eigeninteresse oder zum Vergnügen riskiert. Er meinte allerdings, dass wir es gelegentlich für Ideale aufs Spiel setzen. Wer glaubt, dass Menschen nur aus Eigeninteresse handeln, sollte einen Moment lang an den islamischen Terrorismus denken: Dort gibt es gut situierte junge Leute, die bereit sind, ihr Leben zu geben, um auf diese verdrehte Weise gegen den Zynismus des Westens zu protestieren. Dieser Westen ist nun mit folgender Frage konfrontiert: Können wir trotz unserer Differenzen mit vereinter Stimme eine Moral formulieren, die glaubwürdig genug ist, um dem islamischen Fundamentalismus die Stirn zu bieten? Da die US-Regierung derzeit nicht dazu in der Lage ist, liegt es an anderen, dabei die Regie zu übernehmen.

Die Autorin ist amerikanische Philosophin und Direktorin des Potsdamer Einstein-Forums. Zuletzt erschien von ihr „Evil in modern Thought“, Princeton University Press 2002. – Übersetzung von Christian Kässer und Christiane Peitz

Der Mann ist Kult. Genauer gesagt: Seine zweifach gebogenen Hyperschalenkonstruktionen sind Kult. Graue Haare, dunkler Anzug – Ulrich Müther, der sich selbst gern als Landbaumeister aus Binz auf Rügen bezeichnet, ist ein freundlicher älterer Herr. Geduldig gibt er Auskunft und zeigt sich höflich erstaunt, dass bei seinem Eröffnungsvortrag zur Ausstellung seiner Bauten (Ausstellungsforum der TU, Ernst-Reuter-Platz, bis 7. Februar) der Raum aus allen Nähten zu platzen droht. Und das, wo man ihm gerade in Berlin so übel mitgespielt hat.

Oder gerade deshalb? Man erinnere sich an den Abriss seines „Ahornblattes“, jener Gaststätte, die er zusammen mit Gerhard Lehmann und Rüdiger Plaethe am Fuß der Plattenhochhäuser auf der Fischerinsel verwirklicht hatte. Sogar zur Abrisstechnik wollte die damit beauftragte Firma den Baumeister befragen. Müther ging dann doch lieber vor Rügen segeln – dort, wo im Badeort Binz eine Aussichtskanzel der Strandwacht überdauert hat.

Jetzt gibt es in der schönen Ausstellung ein Wiedersehen mit dem „Ahornblatt“, zusammen mit zwölf anderen Modellen von Bauten und Projekten aus Müthers Binzer Schalenschmiede.

Andernorts weiß man seine Bauten mit den auffällig geschwungenen Schalenkonstruktionen mehr zu schätzen. In Warnemünde etwa, wo im vergangenen Sommer der „Teepott“ nach zehn Jahren Leerstand in die gastronomische Nutzung zurückgeholt wurde. Müthers individuelle Schalenkonstruktionen bildeten in der DDR ein architektonisches Sahnehäubchen auf dem normierten Plattenstandard, funktional anzuwenden bei Restaurants, Messehallen, Schwimmbädern, Kirchen und Planetarien. Sogar als devisenbringender Exportschlager waren sie erfolgreich. Wen die Trauer um das „Ahornblatt“ zu übermannen droht, mag ins lybische Tripolis reisen. Da steht die gezackte Gaststätte Ahornblatt noch einmal, in Verbindung mit einer Kuppel – als Raumflugplanetarium „Spacemaster“. Jürgen Tietz

Susan Neiman

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