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So soll das Denkmal der Architekten Ursula Wilms, Nikolaus Koliusis und Heinz W. Hallmann für die Opfer des nationalsozialistischen "Euthanasieprogramms" aussehen. Die Fertigstellung ist für 2014 geplant.

© dpa

Neues Mahnmal in Berlin: Eine Glaswand für die Euthanasie-Opfer

300 000 Menschen kostete das "Euthanasieprogramm" der Nazis das Leben. Nun soll ein neues Denkmal in der Tiergartenstraße der Opfer gedenken. Den Anfang nahm alles 2003 mit einem Zufallsfund.

Bis zu ihrem vierten Lebensjahr hatte sich das Mädchen völlig normal entwickelt. Dann kam es manchmal nachts zur Mutter und war verängstigt. „Das Kind zitterte häufig am ganzen Körper.“ So beginnt die Patientenakte von Anna Lehnkering. In der Schule verstand sie alles, was man ihr sagte, aber rechnen, lesen und schreiben fiel ihr schwer. Heute wäre sie wohl ein Kind mit Lernschwierigkeiten. Für die Nazis galt sie als „lebensunwert“. Sie schickten Anna von einer psychiatrischen Anstalt in die nächste und ermordeten sie in der Gaskammer. Sie wurde 24 Jahre alt.

Annas Schicksal ist dokumentiert auf provisorischen Stellwänden an der Tiergartenstraße hinter der Philharmonie. Autos rauschen vorbei, Menschen hetzen zum Potsdamer Platz, kaum jemand nimmt Notiz davon. Auch die Bodenplatte daneben fällt nicht auf, ebenso wenig die rostigen konkaven Wände zwanzig Meter weiter. Das ist bislang alles, was in Berlins Mitte an die erste systematisch geplante Massenvernichtungsaktion erinnert, die die Nationalsozialisten als „Euthanasie“ (griechisch für „leichter Tod“) verharmlosten.

"Aktion T4" wurde von der Tiergartenstraße aus koordiniert

Bis zu 300 000 Menschen fielen ihr zum Opfer. Es waren Menschen mit psychischen oder körperlichen Einschränkungen und welche, die sich nicht anpassen wollten und als „asozial“ diffamiert wurden. An sie soll künftig ein neues nationales Denkmal an der Tiergartenstraße 4 erinnern. In einer Stadtvilla, die vor dem Krieg an dieser Adresse stand, wurden die Verbrechen geplant und zur Tarnung „Aktion T 4“ genannt. Hier saßen die medizinischen Gutachter, hier wurden 70 000 Krankenakten archiviert, auch die Kasse, über die die „Pflege“ der Patienten abgerechnet wurde, war in der Tiergartenstraße 4 untergebracht. Nach dem Krieg wurde die Ruine der Villa gesprengt und auf Teilen des Grundrisses die Philharmonie errichtet.

Das Denkmal kommt spät – nach dem für die ermordeten Juden (2005), Homosexuellen (2008) und Sinti und Roma (2012). Die „Euthanasie“-Opfer hatten keine starke Lobby. Viele waren über Jahrzehnte vergessen und sind es noch immer, auch in den eigenen Familien. Das Stigma, ein behindertes, „minderwertiges“ Kind zu haben, beschämte und verunsicherte Familien weit über 1945 hinaus. Erst die Nichten, Neffen und Enkel machen sich auf die Suche nach den verschwundenen Angehörigen. Auch Anna Lehnkerings Leben und Leiden kam erst ans Licht, als ihre Nichte Sigrid Falkenstein den Namen der Tante 2003 zufällig im Internet fand und recherchierte. Sie regte auch das Denkmal an.

Die Aufarbeitung der Ereignisse war schwierig, weil viele Ärzte ihre Karriere fortsetzten

Kulturstaatsminister Bernd Neumann sprach aus Anlass des Baubeginns am Montag davon, dass der künftige Gedenkort ein „Zeichen“ setze „gegen Hass und für die Achtung vor dem Leben“. Dilek Kolak, Berliner Senatorin für Arbeit, Frauen und Integration, sieht einen Ort der Erinnerung und zugleich Mahnung entstehen. Denn die gesellschaftliche Integration von Menschen mit Behinderung sei bis heute nicht vollständig vollzogen. Während der Grundsteinlegung musizierten Schauspieler des Theaters Thikwa, bei dem Menschen mit und ohne Behinderung zusammenwirken.

Als letzte Rednerin trat Sigrid Falkenstein ans Rednerpult. Auch ihr ist an einem repräsentativen Gedenkort gelegen, welcher „nicht nur Sonntagsreden und Kranzniederlegungen dient.“ Für den „klaren und schlichten Siegerentwurf“ hat sie sich gemeinsam mit der Jury auch aufgrund des Platzes entschieden, den die Architekten Ursula Wilms, Nikolaus Koliusis und Heinz W. Hallmann den Informationen über die Opfer einräumen wollen.

Weil viele Ärzte und Psychiater ihre Karrieren nach dem Krieg fortsetzten, kam auch die Erforschung der NS-„Euthanasie“ erst spät voran. Viele Akten sind noch nicht ausgewertet. Deshalb beteiligt sich auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft mit 300 000 Euro an dem Denkmal. Der Bund gibt 500 000 Euro dazu, Berlin das Grundstück.

Wie auch bei den drei anderen nationalen Mahnmalen, die in den vergangenen acht Jahren in Berlins Mitte errichtet wurden, gab es auch im Vorfeld der Planungen für diesen Gedenkort Debatten über die Gestaltung.

Weniger Denkmal, mehr Information

Vertreter der Opfer wollten kein abstraktes Kunstwerk und forderten vor allem viel Raum für Informationen: für Opfer- und Täterbiografien, für die detaillierte Darstellung der Arbeitsweise der „Euthanasie“-Dienststelle in der Tiergartenstraße 4, für den Zusammenhang mit Tötungsaktionen kranker Menschen in den anderen besetzten europäischen Ländern, für die Vorgeschichte eugenischer Denkweisen und den Umgang mit den „Euthanasie“-Morden in der DDR und der Bundesrepublik. Für das gewünschte Museum war jedoch zwischen Philharmonie und Tiergartenstraße kein Platz.

Ein schlichtes Denkmal soll vor allem persönliche Biografien enthalten

Man einigte sich auf einen Kompromiss: einen Gedenk- und Informationsort. Zwischen Philharmonie und Tiergartenstraße wird eine 31 Meter lange, 3,10 Meter hohe hellblaue Glaswand auf einer schiefen Fläche aus grauen Betonplatten errichtet. Die Wand stehe für die „Verbindung des lebenden Betrachters zu den zwar physisch getöteten, aber durch unser Nicht-Vergessen und Erinnern weiterlebenden Menschen“, so erklären es die Architekten.

Das Kunstwerk wird den Ort dominieren und den Trend fortsetzen, der mit dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas des amerikanischen Architekten Peter Eisenman begonnen hat: Besucher werden nicht über die intellektuelle Beschäftigung an das Thema herangeführt, sondern über die sinnliche Wahrnehmung, übers Fühlen und Berührtwerden. Am Anfang steht die Betroffenheit. Das Denkmal für die ermordeten Juden reicht die Informationen im unterirdischen Informationsort nach, das Denkmal für die ermordeten Homosexuellen verzichtet ganz auf Erklärungen. Bei dem neuen Denkmal für die „Euthanasie“-Opfer sollen die Informationen auf einem zwanzig Meter langen, hüfthohen Pult mit 13 Elementen Platz finden. Breiten Raum werden die Biografien der Opfer einnehmen.

Viele Fragen bleiben offen

Auch in der populärwissenschaftlichen Beschäftigung mit der NS-Zeit dominieren persönliche Betroffenheit und der biografische Ansatz. Der anhaltende Boom der „Stolpersteine“ ist dafür ein Indiz von vielen.

Es ist wichtig, den ermordeten, vergessenen Menschen Würde und Menschlichkeit zurückzugeben, indem man an sie erinnert. Doch die Lebensgeschichten einzelner, seien sie noch so gut recherchiert und einfühlsam zu Papier gebracht, können nicht die Erforschung der politischen, sozialen und kulturellen Strukturen ersetzen, die zu Ausgrenzung und Mord führten. Nur so lassen sich auch Antworten auf unbequeme Fragen finden. Warum versuchten zum Beispiel nur wenige Familien, ihre Kinder und Angehörigen aus den „Heil- und Pflege“-Anstalten herauszuholen? Einzelne Schicksale zu recherchieren und gleichzeitig die Erforschung der Strukturen nicht zu vernachlässigen, bleibt eine Herausforderung an die Geschichtswissenschaft und an die öffentliche Gedenkkultur.

An Gelegenheiten, sich dieser Herausforderung zu stellen, wird es auch in Zukunft nicht mangeln. Eine Initiative um den Historiker Peter Jahn wirbt für ein Denkmal, das an die vergessenen Opfer unter den osteuropäischen und russischen Zivilisten erinnert sowie an die drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene. Im Dezember machte sich Außenminister Guido Westerwelle die Forderungen einer italienisch-deutschen Historikerkommission zu eigen und kündigte eine Gedenkstätte für die 600 000 inhaftierten italienischen Soldaten an. Sie soll „hartnäckige Stereotype“ in der ansonsten guten italienisch-deutschen Beziehung beseitigen helfen. Eine Inflation der Gedenkorte könnte allerdings die Wirkung der einzelnen Denkmäler schmälern. Auch das sollte man bei allem Erinnern nicht vergessen.

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