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Kultur: Einer kam durch

Großstadt-Bilderbuch: „Rhythmus Berlin“, die neue Revue im Friedrichstadtpalast

Diese Stadt ist ein Coffee-Table-Book hochglänzender Kulissenbilder. Trichter, Zentrifuge und Bühnenmaschine. Sie besteht aus gläsernen Fassaden, vor denen nachts riesige Ballons spazieren geführt werden, auf denen Menschenträume flimmern. Sie ist eine kugelige Disco, wie das Studio der Sabine Christiansen, auf dem Dancefloor werden Outfits durchgeschüttelt. Sie ist ein Treffpunkt für Wim Wenders’ weiß gefiederte Metropolenengel und eine niedliche Goldelse. Sie ist ein leuchtender Globus, über dem die gläserne Plansch-Wanne zweier gut gebauter Liebesspiel-Artisten schaukelt. Sie ist ein roter Sonnenaufgangsball, der umgewendet zum Megaziffernblatt mutiert. Sie ist der Rolltreppenknotenpunkt einer Bahnhofshalle mit Reichstagsblick und ein Museum, in dem Statuen auferstehen, Reliefs sich rühren.

Und diese Stadt ist die Kathedrale der Kräne, das Büro der Minirockmiezen, schläfriges Tiergarten-Idyll, ein Nightclub sich räkelnder Cocktail-Damen, die Fensterfront cartoonhafter Putzkolonnen, der Model-Laufsteg. Sie ist Sternendom und Kinohöhle für boy meets girl und alle, die ein Happyend erleben wollen.

Zum zweiten Mal seit der Wende setzt Europas größtes Revuetheater auf Lokalkolorit. „Rhythmus Berlin“ heißt das neue Programm im Friedrichstadtpalast. 220 Tanzbeine, über 600 Kostüme, 24 Bühnenbilder. Der Aufwand beeindruckt. Die präzise Bigband produziert gute Laune. Das Ballett ackert und zieht sich um, ohne Atempause. Aber trotz berolinensischer Motive und Projektionen verharrt der Illusions-Apparat im beliebigen Nirgendwo. Über Locations von Magazin-Foto-Strecken wagt man sich selten hinaus. Szenen der Politiker, der Türken oder der Obdachlosen kommen nicht vor – und hätten gleichwohl gewagten, hinreißenden Revuestoff abgegeben. Das Ost-West-Thema hat sich in Luft aufgelöst, obwohl eine Premiere an der Friedrichstraße jeden Einheits-Wunschdenker mit der ostdominierten Realität eines stolzen Heimspiels konfrontiert. Warum nicht on stage eine Premierenparty der Deutschen Oper und des Friedrichstadtpalastes konterkarieren? Ironie bleibt in diesem repräsentativen Musentempel unerwünscht.

Doch der schlimmste Aussetzer des aseptischen Berlin-PR-Spektakels, das Intendant Thomas Münstermann inszeniert hat, sind die Song-Kompositionen, Song-Texte und ihre Sänger. Sie sollen durch den Abend führen. Zwei Pärchen finden, suchen, verpassen einander, das ist der rote Faden: Ihre Stimmchen, ihre ausgeleierten Schlagerphrasen – „jedes Gesicht kann deines sein“, „kein Stein bleibt auf dem andern stehn“, „du bist mir so nah“ – und der Jingle-Soundtrack ihrer sogenannten Melodien sind schwer zu ertragen. „Ob ich mich erst verlieren muss, um die zu finden, die ich suche?“

„Rhythmus Berlin“ überwältigt nicht als Tempo-Zauber, dazu brauchen manche Umbauten zu viel Zeit, sondern setzt auf die Parade der Panoramen. Dabei wirkt der artige Brückenschlag des Regisseurs zu güldenen Epochen – angestaubte historische Tableaus im neuen Hauptbahnhof, Filmdokumente aus den roaring twenties – eher wie ein Missverständnis. Diese Revue zehrt trotz zweimaliger Auffahrt der Freitreppe kaum von legendären Vorbildern. Vor allem unterschätzt sie ihr Publikum. Als seien Charme- und Satire-Beigaben, wie sie vormals bei Entertainment-Klassikern auch in großen Show-Häusern möglich waren, den Massen heute nicht zumutbar. Und als könne man Berliner Trommelfeuer abfackeln, ohne den Berliner Großkotz, die komische Berliner Übellaunigkeit, den sogenannten Berliner Humor zu feiern.

Nur in einem aufregenden Moment, am akrobatischen Höhepunkt des Unternehmens, gelingt es Rai und Rudy Velez, die Clips aus dem bunten Großstadt-Bilderbuch zur verwirrenden, hintergründigen Assoziation zu verdichten. Das „Todesrad“ des Duos besteht aus zwei runden Laufradkäfigen an den beiden Enden einer monströsen Wippe. Der eine Velez Brother drückt sein Wippen-Ende nach unten. Der andere schwebt mit seinem Hamsterlaufrad in gefährliche Höhen, entklettert dem Gehäuse, läuft über das kreisende Gitter wie über den taumelnden, rasenden Globus. Kampf der Balance. Gleichgewichtsstörung. Bewegung ohne Stopp. Da rennt einer ums Leben. Ovationen. Der Planet dreht durch. Die Stadt hält den Atem an.

Friedrichstadtpalast, Di bis Sa 20 Uhr, Sa und So 16 Uhr.

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