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Kultur: Er nahm sich diese ungeheure Freiheit

Warum uns Wilhelm Furtwängler bis heute bewegt / Von Daniel Barenboim

Wilhelm Furtwängler stand immer fremd in der Welt. Er war ein Einzelgänger, ein Solitär, er passte in keine noch so weit offen stehende Schublade. Furtwängler ist der AntiSchubladen-Musiker, der Anti- Ideologe par excellence – und dieses Präsens meine ich jetzt sehr ernst, denn darin bleibt Furtwängler uns lebendig. Einerseits gehörte er als Chef der Berliner Philharmoniker zum Establishment, andererseits galt er musikalisch von Anfang an als Außenseiter. Zeitgenossen wie Toscanini und Bruno Walter etwa – auch Klemperer – waren ästhetisch viel linientreuer. Es erscheint uns heute grotesk, aber die Emigranten unter den Dirigenten stellen künstlerisch weit weniger gebrochene Persönlichkeiten dar als Furtwängler, der Nazi- Deutschland nicht verließ.

Furtwänglers Brüche waren innere. Er war ein Subjektivist, der philosophierte. Und genau das drückt sich in seiner Arbeit aus: Der Philosoph hat probiert, und der Poet hat am Abend dirigiert. Der eine hätte ohne den anderen nicht existieren können. Böse Zungen behaupten, diese Unentschiedenheit, diese Ambiguität sei sein Schicksal gewesen. Das glaube ich nicht. Furtwängler war davon überzeugt, dass alles mit allem in Verbindung steht: Musik als organisches Ganzes. Für Furtwängler gab es keine voneinander unabhängigen Phänomene.

Wie, so fragt man sich, konnte er dann das Dritte Reich überleben, geistig, politisch?

Natürlich wusste ich als Kind, wer Furtwängler war. Ich hatte ihn in Buenos Aires mit der Matthäus-Passion gehört und als ich ihm dann im Sommer 1954 Salzburg vorgestellt wurde, war das natürlich etwas Besonderes. Man bedenke: Ich habe es als Kind geliebt, Klavier zu spielen, ich hätte jedem vorgespielt, auch dem Kellner im Hotel. Aber dieser Mann hatte doch eine große Aura. Heute denke ich, dass Furtwängler als Mensch sehr unsicher gewesen sein muss, sehr verletzlich. Und auch sehr deutsch. Furtwängler brauchte sein musikalisches Zuhause. Vielleicht hat er deshalb das Ende der Tonalität nie akzeptiert.

Es wird immer behauptet, Furtwängler sei konservativ gewesen. Das stimmt nicht, schon gar nicht für den jungen Interpreten, der Strawinskys „Sacre“ dirigiert hat oder später Schönbergs Variationen. Furtwängler aber hat in seinem tiefsten Inneren daran geglaubt, dass Musik entstehen muss. Musik ist Klang, und Klang muss „werden“, nicht „da“ sein. Aus diesem Verständnis heraus war seine Musik immer neu und niemals nur eine Frage des Repertoires. Furtwängler hat nicht probiert, um das, was er in der Probe gefunden und erarbeitet hatte, abends im Konzert abzurufen. Für Furtwängler war eine Beethoven-Sinfonie genauso neu, genauso lebendig wie ein Stück, das erst gestern komponiert worden ist.

Bei aller Weltferne, allem Der-Zeit-Entrücktsein-Wollen, stand Furtwängler den technischen Neuerungen seiner Zeit durchaus aufgeschlossen gegenüber. Er flog in windigen Propeller-Maschinen bis nach Südamerika, wenn dort ein lukratives Angebot winkte, und seine Arbeitsleistung Anfang der 20er Jahre würde man heute getrost unter Jet-Setting verbuchen. Als er 1922 die Leitung der Berliner Philharmoniker übernahm, war er gleichzeitig am Leipziger Gewandhaus und in Wien tätig. Die Programme dieser Jahre lassen nur einen Schluss zu: Der Mann muss in Nachtzügen gelebt haben.

Furtwängler war unkonventionell. Bei seinem Nachfolger Herbert von Karajan etwa haben die Musiker immer ziemlich rasch verstanden, was er wollte und darauf verständigte man sich. Bei Furtwängler war immer alles anders. Er war unberechenbar und gehorchte damit einer inneren Notwendigkeit. Er hat sich gewisse musikalische Freiheiten und Spontaneitäten nicht etwa genommen, weil ihm das besser gefiel, sondern weil die musikalischen Strukturen es so verlangten. Furtwängler hat in einer Partitur nicht das Wie kalkuliert, sondern das Wo. Er sagte, an dieser Stelle muss eine Betonung sein, und hier darf auf gar keinen Fall eine Betonung stehen. Ohne dieses Gerüst, ohne diese Analyse hätte er niemals so frei sein können, wie er es war. Insofern war Furtwängler weit mehr als der „Meister des Augenblicks“, als der er immer beschworen wird. Das ist es, was mir an ihm imponiert: die ungeheure Freiheit in der Verantwortung vor dem Werk. Wilhelm Furtwängler war nicht der Lord Byron des 20. Jahrhunderts – er hat sehr wohl versucht, seine Subjektivität in das Ganze zu integrieren.

Wilhelm Furtwängler repräsentierte eine geistige Richtung, die sich in erster Linie mit dem Gehalt der Musik auseinander gesetzt hat. Ich kann eine Beethoven-Sinfonie nicht mit Worten erklären. Wäre das möglich, wäre die Sinfonie entweder überflüssig oder ihrerseits unmöglich. Aber diese Tatsache bedeutet nicht, dass Musik keinen Inhalt hat. Diese Suche nach dem Inhalt fehlt uns heute. Wir suchen entweder den strahlenden Moment oder die kalte Architektur oder die historische Wahrheit. Wir reduzieren uns.

Als Komponist hat Furtwängler es zuallererst verstanden, fantastische Steigerungen zu schreiben. Wenn seine Stücke nicht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden wären, sondern um 1870 herum, die Welt hätte über Meisterwerke gestaunt. Handwerklich ist seine Musik absolut perfekt. Ästhetisch aber merkt man die Nahtstellen.

Da ich das Glück hatte, sehr früh anzufangen, bin ich vielen berühmten Musikern noch persönlich begegnet. Manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich als einer der letzten ein Museum mit „prähistorischer Kunst“ besucht, bevor es für immer geschlossen wurde. Und ich konnte eines beobachten: Diese großen Persönlichkeiten haben über die Jahre ihr Thema gefunden, den einen Gedanken, dem sie alles andere unterordneten. Der Cellist Pablo Casals zum Beispiel hat für sich entdeckt, dass man die kleinen Töne nicht genug hört. Also hat er sich fast um nichts anderes mehr gekümmert. Er war zum Schluss wie eine Karrikatur seiner selbst. Isaac Stern, der Geiger, hat die Artikulation mit der rechten Hand zelebriert – mit dem gleichen Effekt. Und Sergiu Celibidache hat aus Furtwänglers Klang-Ideen eine Ideologie gemacht. Wenn man böse wäre, würde man sagen, er hat die Musik am Ende dazu benutzt, um seine eigenen Theorien darüber zu beweisen. Bei Furtwängler gibt es so etwas nicht. Bei ihm bleibt immer der sprichwörtliche Rest, das Rätsel.

Alle haben wir uns stark auf Furtwängler bezogen: Claudio Abbado ebenso wie Zubin Mehta und auch ich. Der Mythos Furtwängler aber hat erst Ende der 60er Jahre eingesetzt. Die Plattenfirmen waren ihm nicht sonderlich gewogen. Wir jungen Dirigenten haben Aufnahmen entdeckt, die so vollendet waren, dass wir dachten, sie sind besser als das jeweilige Stück. Schumanns vierte Symphonie ist dafür ein gutes Beispiel. Oder auch Furtwänglers „Tristan“ mit Kirsten Flagstad und Ludwig Suthaus. Imitieren kann man das nicht. Aber man kann versuchen zu verstehen, warum es so ist, wie es ist – um es selbst vielleicht ganz anders zu machen. Denn es muss nicht wie Furtwängler klingen, es muss wie Furtwängler sein.

Viele Musiker musizieren so, wie sie leben. Furtwängler hat versucht, so zu leben, wie er musiziert hat. Das ist nicht sehr bequem. Man muss es wollen und auch können. Aber nur dann sortieren sich die Dinge anders, als sie es heute vielfach tun.

Der Autor ist Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper.

Wilhelm Furtwängler , geboren am 25. Januar 1886 in Berlin, führen erste Engagements nach Breslau, Zürich, München, Straßburg und Lübeck. 1920 Kapellmeister in Mannheim und Leitung der Frankfurter Museumskonzerte. 1922 Leiter des Berliner Philharmonischen Orchesters , gleichzeitig Chef des Leipziger Gewandhausorchesters. 1931 Leitung der Bayreuther Festspiele , 1933 Direktor der Berliner Staatsoper. 1934 legt er alle Ämter nieder, als die Nazis Hindemiths „Mathis der Maler“ verbieten, bleibt aber in Deutschland. 1945 geht er in die Schweiz, wird 1946 entnazifiziert, übernimmt später wieder die Berliner Philharmoniker und eröffnet 1951 Neu-Bayreuth mit Beethovens Neunter. Im Sommer 1954 spielt ihm der elfjährige Daniel Barenboim in Salzburg vor (Foto oben, mit seinen Eltern). Am 30. November stirbt Furtwängler in Baden-Baden.

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