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Der Schauspieler Guntram Brattia, hier auf einem Bild von 2003.

© Imago

Erinnerung an Guntram Brattia: Ein Romeo für die Ewigkeit

Als Schauspieler war er wild und zart zugleich. Guntram Brattia, der zuletzt am Münchner Residenztheater zum Ensemble gehört. Am Sonntag lädt das Theater zur Gedenkveranstaltung für den am 19. September tödlich verunglückten Brattia. Auch diese persönliche Erinnerung des Dramatikers Moritz Rinke wird dort verlesen.

Es gab zwei Momente in meinem Leben, in denen ich dachte, ich müsste unbedingt zum Theater. Der eine war 1988, Zadeks Wedekind-Inszenierung von „Lulu“: Ulrich Wildgruber fällt im Liebeswahnsinn die Treppe hinunter, im Fallen hält er noch eine Abschiedsrede an Lulu.  Der andere Moment: 1993, Guntram Brattia als Romeo, Inszenierung von Leander Haußmann beim Berliner Theatertreffen.

Brattia versucht über eine brüchige Leiter zu Julia zu kommen, die berühmte Balkonszene. „Was für ein Licht bricht aus jenem Fenster hervor“, schwärmt Brattia, während ebenfalls die Sprossen der Leiter brachen; er hing irgendwie mit einer Hand am Balkon, während er den leidenschaftlichsten Monolog hielt, den ich je gehört hatte. „Geh auf, schöne Sonne“ und so weiter, „O wie sie die Hand auf die Wange lehnt / Wär ich der Handschuh doch …“ – das alles bestimmt drei Meter hoch in der Luft ohne Trapez.

Große Kinderaugen, zartes, stolzes Lächeln: Guntram Brattia

Auf der Premierenfeier beobachte ich den Romeo. Er war umringt vom ganzen Theaterbetrieb, der ihm offenbar noch einmal die Balkonszene aus seiner Sicht vorspielte, und es schien als habe die Lebendigkeit und Leidenschaft dieses Romeos die ganze Theaterwelt ergriffen. Und Brattia, der Romeo, selbst? Er stand im T-Shirt da, wusste vor Verlegenheit gar nicht, wohin mit sich, dazu die großen Kinderaugen und ein zartes, aber stolzes Lächeln. Später erfuhr ich, dass er sich während der Proben das Kreuzband gerissen hatte und gar nicht hätte spielen dürfen.

Als ich dann mein erstes Theaterstück schrieb, dachte ich an Guntram Brattia. Das Stück spielt im Theater und ein Regieassistent wartet auf die Schauspieler, um die Wiederaufnahme von „Romeo und Julia“ zu machen, natürlich die Balkonszene. Und das ganze Chaos und der Irrsinn meines Stückes war irgendwie die Fortführung der brechenden Sprossen, es wurde ein Stück, das nur mit einer Hand an den Gesetzen der Dramaturgie hing, aber Brattia liebte es.

Bei den Proben verletzte Brattia sich und lief mit abgetrenntem Finger in die Charité

Wenige Jahre später wurde es im Deutschen Theater geprobt, und wer war der Regieassistent im Stück? Guntram Brattia! Er stand da mit sechs Kannen Kaffee, dazu acht Tassen und vier exotischen Pflanzen zwischen den Zähnen sowie zwei Ballkleidern, 35 Tafeln Schokolade und einem Degen. Und alles, was ich an Brattia in seiner legendären Balkonszene bewundert hatte, seine Kraft, seine Energie, seine Leidenschaft – das alles schien nun im ersten Moment mein Stück zu überrollen.

Mein Stück war zwar leidenschaftlich, aber der Leidenschaftlichkeit Brattias war es nicht gewachsen. Oft sprang ich bei den Proben auf und erklärte dem Regisseur, Brattia habe sich zurückzunehmen, man müsse auch etwas von der Verletzlichkeit der Figur erfahren, dabei hatte ich noch nicht begriffen, wie brüchig Brattia spielen, wie viel Zartheit in seinen ungestümen Tönen liegen konnte. Irgendwann fiel ihm der Eiserne Vorhang auf die Hand und er lief mit einem abgetrennten Finger in die benachbarte Charité, er wirkte gar nicht hysterisch, irgendwie, so schien es, gehörte so etwas zu Brattia und seinem Theater dazu.

Am 29. Juli holte er mich am Flughafen in Innsbruck ab, er hatte bei den Tiroler Volksfestspielen mein neues Stück inszeniert, Brattia war mittlerweile auch Regisseur geworden. Er trug wieder ein T-Shirt, wie ich ihn zum ersten Mal vor 20 Jahren gesehen hatte, dazu seine Mütze. Im Auto sah ich plötzlich vor uns den Mannschaftsbus von Maccabi Haifa, die israelische Fußballmannschaft befand sich im Trainingslager in Tirol. Ich erklärte Brattia, dass ich mit dem Sportdirektor von Maccabi Haifa befreundet sei. Und dann gab es wieder eine richtige Guntram-Brattia-Szene: Er entschied, den Bus zu überholen, ihn auszubremsen, um dann aus dem Auto zu springen und den Sportdirektor von Haifa zu umarmen. „Machen wir, oder?“, fragte er und drückte aufs Gas, und ich konnte ihn nur davon abhalten, indem ich erklärte, dass die Israelis das für ein Attentat halten würden.

Die Inszenierung, seine letzte, war so intensiv, dass ich die Nacht in Tirol nicht schlafen konnte. Am Flughafen fragte er beim Abschied: „Wann sehen wir uns wieder?“ Dann ging er, ich konnte gar nicht antworten.

Wochen später hörte ich, dass er am 19. September bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Und immer wieder in den letzten, traurigen Tagen sehe ich, wie Guntram am Balkon hängt mit einer Hand und über dem Abgrund die Liebe beschwört.

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