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Literaturwerkstatt Berlin/Haus für Poesie: Der US-Dichter Charles Simic 2016 beim 17. Poesiefestival Berlin in der Akademie der Künste

© imago/gezett

30. Geburtstag des Hauses für Poesie: Erkenntnis ist möglich

Vom Majakowskiring in die Kulturbrauerei und in eine taghell gemeißelte Gegenwart: Das Haus für Poesie feiert dieser Tage seinen 30. Geburtstag.

Im ehemaligen Machtzentrum der DDR-Elite am Majakowskiring in Pankow hatte im September 1991 alles begonnen. Der Versammlungsort der freien poetischen Geister, die sich da zur Konstituierung der „literaturWERKSTATT“ zusammenfanden, war in früheren Jahren die Villa des DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl.

Zu den ersten Höhepunkten der dort aufblühenden Debattenkultur gehörten zunächst Kolloquien über „Antifaschismus als Glaube, Theorie und Tat“ und andere Diskurs-Evergreens des linken Milieus.

Erst mit der legendären Zusammenkunft der drei prominenten DDR-Lyriker Karl Mickel, Adolf Endler und Stephan Hermlin begann dort 1993 die große Zeit der Poesie. In einem heute noch im Archiv des Deutschlandradios abrufbaren Gespräch beugten sich die drei so gegensätzlichen Repräsentanten der ostdeutschen Lyrik über Shakespeare-Sonette und untersuchten an Einzelbeispielen „das deutsche Gedicht in der 2. Hälfte des XX. Jahrhunderts.“

Drei Jahrzehnte und zwei Dichtergenerationen später ist die Literaturwerkstatt, die seit 2016 den ehrgeizigeren Namen „Haus für Poesie“ trägt, als inspirierender Kraftort für deutsche und internationale Dichtung längst etabliert. Thomas Wohlfahrt, vor 30 Jahren Gründungsdirektor der Literaturwerkstatt, steht immer noch an der Spitze dieses Lyrik-Thinktanks, der seit 2004 auf dem Gelände der Kulturbrauerei am Prenzlauer Berg angesiedelt ist.

Thomas Wohlfahrt ist ein exzellenter Netzwerker

Als exzellenter Netzwerker und Ideengeber hat Wohlfahrt mit seiner Stellvertreterin Christiane Lange und Matthias Kniep das Haus für Poesie erfolgreich ins digitale Zeitalter geführt. 1999 installierte man die „Lyrikline“, eins der größten Audio-Archive der Welt mit Dichterstimmen, wo inzwischen fast 1500 Autoren zu hören und zu lesen sind.

Bei den zahlreichen Lyrik-Formaten, die seither in dem kleinen Saal in der Kulturbrauerei stattfinden, ist das Publikumsinteresse meist überschaubar. Ein absoluter Blockbuster des Hauses für Poesie ist indes seit Jahren der furiose internationale „Weltklang“-Abend, der alljährlich im Juni am Potsdamer Platz das seit dem Jahr 2000 zelebrierte Poesiefestival eröffnet.

Ins Jahr des Milleniumswechsels fiel auch der Startschuss zum bislang aufwändigsten und am üppigsten subventionierten Projekt des Hauses: Der „Literaturexpress Europa“ mit 103 internationalen Dichterinnen und Dichtern an Bord raste an 46 Tagen über Madrid, Paris, Riga und Moskau nach Minsk, um dann über Warschau schließlich in Berlin zu landen.

Die historische Zugreise Leo Tolstojs von Lissabon nach Berlin fungierte hier als Vorbild für den europäischen Dialog der Dichter. Dass es auch eine ernüchternde Erfahrung war, hat Jahre danach der georgische Autor Lasha Bugadze in einem Roman festgehalten: „Im Zug gab es nur Autoren, es war eine Welt ohne Leser.“

Diskurszentrum für Gegenwartspoesie

Eine bittere Bilanz der poetischen Europa-Schwärmerei im Literaturexpress zog jetzt auch der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch, der damals dabei war und nun auf einer der Jubiläumsveranstaltungen u.a. mit Ana Luîsa Amaral und Aleš Steger an die desillusionierendste Station der Reise erinnerte: an den Aufenthalt in Minsk, wo damals bereits Alexander Lukaschenko mit eisernem Besen regierte.

Andruchowytsch beschrieb den damaligen brutalen Polizeieinsatz gegen aufsässige Demonstranten am Rande eines Dichterfestivals, den die Literaturexpress-Gemeinde so fassungs- wie tatenlos mitverfolgte.

Es sind nicht diese Aktionen einer werbeträchtigen Symbolpolitik, die das „Haus für Poesie“ zum unverzichtbaren Diskurszentrum für die Gegenwartspoesie machen. Es sind die Formate, die an die Gesprächskultur der damaligen Lyrik-Diskutanten Karl Mickel, Adolf Endler und Stephan Hermlin anknüpfen. So setzt die Reihe „Das Gedicht in seinem Jahrzehnt“ seit Beginn dieses Jahres in bislang fünf Konstellationen jene Form lebendiger Literaturgeschichtsschreibung fort, die von den drei DDR-Lyrikern begründet worden war.

Am 26.9. treffen mit Anja Utler und Ursula Krechel zwei der profiliertesten weiblichen Stimmen der Gegenwartslyrik, aufeinander. In den besten Momenten der fünf Abende zuvor wurde bereits jene „taghell gemeißelte Gegenwart“ sichtbar, von der auch ein aktuelles Gedicht Ursula Krechels spricht: „Erkenntnis ist nach wie vor möglich.“

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