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Kultur: Es ward Licht

Also, ich rufe jetzt einfach mal Simon Rattle zum "Mr.Unverhofft" aus.

Also, ich rufe jetzt einfach mal Simon Rattle zum "Mr.Unverhofft" aus.Denn, so lehrt es der Volksmund: Unverhofft kommt oft - und etwas Besseres könnte dem Berliner Konzertpublikum kaum passieren.Was der britische Dirigent und das Berliner Philharmonische Orchester jetzt als Ergebnis ihrer jüngsten Zusammenarbeit präsentierten, überstrahlte das ohnehin glanzvolle Hauptstadt-Klassikangebot im hellsten Licht eines echten Interpretationsereignisses.Geistvoller, spannender, lebenspraller als hier in der Philharmonie vorgeführt, lassen sich Sinfonien des ewig unterschätzten Joseph Haydn kaum spielen.

Das beginnt schon mit den ersten Takten der D-Dur-Sinfonie Nr.70: Wunderbar beiläufig und dabei doch hochkonzentriert steigt die Kammerorchesterbesetzung der Philharmoniker in den Kopfsatz ein, von Rattle mit sprechenden Gesten in die ungewohnte Spielrichtung dirigiert.Kein makellos blankpolierter Papa-Haydn-Sound soll da entstehen, Rattle will vielmehr die ästhetische Verankerung des Komponisten in der barocken Tradition klarmachen, ohne darum das Zeitgenössische, das "Klassische" seiner Musik unterdrücken zu müssen.So entsteht ein äußerst plastischer Klang, geprägt von sehnigen Violinläufen, rasanten Frage-Antwort-Spielen zwischen den Stimmgruppen, aber auch Piano-Passagen von gläserner Zerbrechlichkeit.Und mit einem Mal sind die Philharmoniker mittendrin im Werk: Wo sonst häufig die überlegene Draufsicht auf die Partitur aus den olympischen Höhen spieltechnischer Souveränität dominiert, klingt hier plötzlich alles nach Einsicht in die raffinierten Regeln der Haydnschen Klangsprache.Als sei dieses Konzert der Abschluß eines Workshops, bei dem man sich hinter verschlossenen Türen gemeinsam an etwas ganz Neues, Ungewohntes herangewagt hat: Da ist nicht alles perfekt im Detail, dafür aber überträgt sich die Kreativität der Proben unmittelbar auf das Publikum.

An Abenden wie diesem werden die Schwarzseher, die so gern vom nahen Untergang des klassischen Konzertbetriebs raunen, plötzlich ganz still.Denn sie spüren, daß der wahre Feind der Hochkultur nicht die Freizeitindustrie ist, sondern die Routine der Macher: Simon Rattle sieht man in jeder Bewegung an, daß er Lust darauf hat, mit erstklassigen Musikern erstklassige Musik so zu spielen, daß sie nicht nach Museum klingt, sondern so, als sei die Tinte noch naß.Das gilt für Haydn ebenso wie für Arien von Mozart - die Thomas Quasthoff mit Sensibilität für Textnuancen und einem in allen Lagen mühelos geschmeidig geführten Bariton interpretiert - oder die Berliner Erstaufführung einer "Carlo" betitelten Klangcollage des Philharmoniker-Bratschers Brett Dean, in der sich Chorklänge des Renaissance-Komponisten Gesualdo vom Band mit changierenden Streicherschichten zu meditativer Nachtschattenmusik verbinden.

Am 23.Juni will sich das Berliner Philharmonische Orchester für einen neuen Chefdirigenten entscheiden, der im Herbst 2002 die Nachfolge Claudio Abbados antritt.Glaubt man den Gerüchten, liefern sich derzeit Daniel Barenboim und Simon Rattle ein Kopf-an-Kopf-Rennen in der Gunst der Musiker, die - als einziges Orchester weltweit - ihren künstlerischen Leiter eigenverantwortlich, ohne das Vetorecht der Kulturpolitik bestimmen dürfen.Barenboim ist Chefdirigent des Chicago Symphony Orchestra (und gedenkt es auch zu bleiben), er ist künstlerisch verantwortlich für die Staatskapelle Berlin und die Staatsoper Unter den Linden (und überlegt zur Zeit, ob er seinen Vertrag über 2002 hinaus verlängern soll), er ist heißer Kandidat auf die Leitung der Bayreuther Festspiele, weltweit aktiver Pianist und Liedbegleiter und in Berlin als Allround-Interpret hinlänglich bekannt.

Der 1955 in Liverpool geborene Simon Rattle wurde dadurch berühmt, daß er in 18jähriger kontinuierlicher Arbeit das Birmingham Symphony Orchestra zu einem überregional bedeutenden Ensemble geformt hat, während er parallel Weltkarriere machte.Erst vor zwei Jahren hat der äußerst vielseitig interessierte Dirigent die Leitung des Orchesters abgegeben, um mehr Zeit für sich zu haben, für die Beschäftigung mit der historischen Aufführungspraxis, mit Gustav Mahler, mit Uraufführungen.

Und er hat einen echt englischen Humor: Zweimal ließ er zum Abschluß des Abends den Applaus des Publikums in den Finalsatz von Haydns C-Dur- Sinfonie Nr.90 hineinbranden, indem er bewußt "abschließende" Akkorde mit nachfolgender Generalpause plazierte, obwohl noch eine Coda folgte - nicht, um seinen Zuhörern ihr Banausentum vor Ohren zu führen (diese selten gespielte Sinfonie muß niemand auswendig kennen), sondern um den Abonnenten schon mal einen kleinen Vorgeschmack auf das zu geben, was sie erwartet, wenn er denn neuer Philharmoniker-Chefdirigent würde: unverhoffte Überraschungen.Und zwar oft.

P.S.: Auch die Philharmoniker sind immer wieder gut für Überraschungen: Als es 1989 um die Nachfolge Herbert von Karajans ging, wählten sie keinen der Favoriten, sondern Signore Unverhofft - Claudio Abbado.

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