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Kultur: Ethik des Lesens

Eine Berliner Tagung erkundet das Werk des Literaturwissenschaftlers Peter Szondi

Die Literaturwissenschaft dreht seit Anfang der siebziger Jahre immer schnellere methodische und theoretische Pirouetten. Das hat auch zur Rückbesinnung auf die eigene Geschichte geführt. Zuletzt ist das schmale Werk des 1929 geborenen Peter Szondi wieder in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Seine 1956 im Suhrkamp-Verlag erschienene Dissertation „Theorie des modernen Dramas“ ist bis heute Standardwerk.

Szondi war von 1965 bis zu seinem Tod 1971 Ordinarius für Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin. Szondi erfährt in diesen Tagen viel Aufmerksamkeit, obwohl sich weder sein Geburts- noch sein Todestag jähren: Das Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der FU wird demnächst in „Peter-Szondi-Institut“ umbenannt, im Herbst erscheint sein Briefwechsel mit Paul Celan im Suhrkamp-Verlag, im kommenden Jahr wird der Journalist Andreas Isenschmid eine Biografie Szondis publizieren. Warum genau der Literaturwissenschaftler im Moment derart en vogue ist, weiß freilich niemand so recht. Antworten versprach eine Tagung im Berliner Literaturhaus unter dem Titel „Literatur und ihre Theorien – Zum Werk von Peter Szondi“ zum Abschluss der Ausstellung „Engführungen. Peter Szondi und die Literatur“ (vgl. Tagesspiegel vom 28. Mai). Ein handgreifliches Indiz für den Szondi-Boom: Das Literaturhaus war trotz drückender Schwüle proppevoll.

Allerdings droht die Beschäftigung mit der jüngeren Fachgeschichte zum akademischen Huldigungsritual zu werden. Wissenschaftsgeschichte erscheint nicht selten als ergrautes Doktorandenkolloquium. Davon blieb die Tagung im Literaturhaus verschont. Eingeladen hatten die Veranstalter – Christoph König vom Marbacher Literaturarchiv und FU-Literaturwissenschaftler Gert Mattenklott – Freunde, Schüler und Kollegen Szondis, die die Diskussionen bereicherten: Bernhard Böschenstein (Genf), Jean Bollack (Paris) sowie Eberhard Lämmert und Renate Schlesier aus Berlin. Die Vorträge aber hielten ausschließlich Literaturwissenschaftler, für die Szondis Leben Geschichte ist und nicht Bestandteil der eigenen Biografie. Sie versuchten sich nicht im Genre der Lobrede, nahmen stattdessen präzise Lokalisierungen der Schriften Szondis vor.

Dessen Studien markieren die Grenze zwischen Hermeneutik und Poststrukturalismus und dokumentieren die methodischen Diskussionen seiner Zeit. Roberto Sanchino Martinez (FU) lieferte in einem ausgezeichneten Vortrag eine genauere Positionsbestimmung. Er skizzierte die Annäherungen Szondis an den damals noch jungen Poststrukturalismus. Dass Szondi dabei niemals seine hermeneutische Position aufgegeben hat, zeigt sich in seiner Beschäftigung mit der Lyrik Paul Celans. Von 1959 bis zum Tod Celans 1970 standen der Dichter und der Literaturwissenschaftler in engem Briefwechsel. Darin waren sie einander weder ein „Du“ noch ein „Fremder“, wie Christoph König anmerkte. Über Celans lyrisches Werk tauschten sich die beiden allerdings nie aus. Szondi nutzte es vielmehr, um seine Auseinandersetzung mit den Lektüretechniken Derridas zu erproben, ohne mit der Hermeneutik zu brechen. Überhaupt habe Szondi versucht, die Opposition zwischen diesen Theorien zu überbrücken, wie Robert Stockhammer vom Zentrum für Literaturforschung Berlin betonte. Dass Stockhammer sowie seine Kollegen Ernst Müller und Daniel Weidner sich Szondis Auseinandersetzung mit der Hermeneutik Schleiermachers zuwandten, war in dieser Hinsicht nur konsequent. Für Szondi hatte Literaturwissenschaft immer eine ethische Qualität, wie seine „Celan-Studien“ zeigen. Darin bezieht er Celans Gedicht „Engführung“ auf den Holocaust und variiert Adornos berühmten Satz: „Nach Auschwitz ist kein Gedicht mehr möglich, es sei denn auf Grund von Auschwitz.“

Das große Interesse am Werk Szondis dürfte vor diesem Hintergrund nicht ausschließlich theoretischer Natur sein. Vielmehr scheint sich eine ins Wanken geratene Literaturwissenschaft in seiner Person nicht nur ihrer methodischen Grundlagen zu vergewissern, sondern auch ihrer ethischen.

Kai Bremer

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