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Anstehen für die Freiheit. Tunesische Flüchtlinge mit Wartenummern auf dem Weg ins italienische Auffanglager von Lampedusa.

© dpa

Ethnologin Heidrun Friese im Interview: "Der Aufstand in Tunesien lag in der Luft"

Angekommen in Europa: Die Ethnologin Heidrun Friese spricht im Tagesspiegel-Interview über Tunesiens Jugend.

In Tunesien war der Jubel groß über den Sturz von Präsident Zine El Abidine ben Ali. Warum flüchten jetzt dennoch Tausende auf die italienische Insel Lampedusa, also nach Europa?

Wenn Menschen zwanzig, dreißig Jahre eingesperrt sind und auf einmal sind die Gefängniswärter weg, dann ist es kein Wunder, dass einige die Chance zur Flucht ergreifen. Die Häfen in Tunesien waren voller Geheimpolizei in Zivil, Flucht war sehr schwer. Die Zivilpolizisten erkannten die Leute an ihren teuren Schuhen. Seit dem Abkommen zwischen Italien und Libyen war der Weg über das Mittelmeer kaum noch offen. Das Lager auf Lampedusa hat man daraufhin geschlossen. Jetzt freuen sich junge Leute zwar über ihre Revolution, aber besonders die gut ausgebildeten haben nicht mehr die Geduld, auf Veränderung zu warten. Sie wissen: Das kann Jahrzehnte dauern. Denken wir an 1989 – da sind auch viele gegangen. Außerdem sollten wir nicht vergessen, dass Mobilität ein Menschenrecht ist, das kann man nicht hoch genug bewerten. Ich würde sogar sagen, der Versuch, diese Wege zu versperren, hat zur Revolte beigetragen.

Sie waren in den Jahren vor der Revolution monatelang zur Feldforschung in Tunesien. Was waren Ihre Erkenntnisse?

Im Rahmen meines Projekts der Deutschen Forschungsgesellschaft „Die Grenzen der Gastfreundschaft“ wollte ich nicht nur sehen, welche Auswirkungen „undokumentierte“ Mobilität für Lampedusa hat. Ich wollte auch die Wege der Migranten erforschen, die Einstellung der Bevölkerung vor Ort. Geforscht habe ich an den tunesischen Häfen Sfax, Chebba, Kelibia, Teboulba, Madhia, Gabès, Zarzis, und dort mit Fischern, Hausfrauen, Jungen und Alten gesprochen, um zu verstehen, warum so viele weg wollen. Mir begegnete Verzweiflung über die Lage. Dabei wurde mir die Bedeutung von Popmusik deutlich, von Raï und Rap. Sie ist für die politische Mobilisierung einer ganzen Generation symptomatisch. Der beliebte Rapper Hamada Ben Aoun, genannt El Général, wurde gleich bei Beginn des Aufstands wegen seines Songs „Rayes Le Bled“ festgenommen, worin er den Präsidenten anspricht, der solle hersehen: „Wir leben wie die Hunde“, ruft er, „wir essen Abfall.“ Raï und Rap drücken das Lebensgefühl aus, sie fordern oft ein „Maghreb United“. In den Songs verarbeiten sie das Gefühl von „hogra“, was Verachtung bedeutet, gegen die Eliten gerichtet. Sie verarbeiten auch „harga“. Das bedeutet „brennen“, auch „seine Papiere verbrennen“. Es geht um den brennenden Wunsch zu fliehen, sich auf den Weg nach Europa zu machen.

Auslöser der Massenproteste in Tunesien war ein junger Arbeitsloser, der sich das Leben nahm …

Es war kein Zufall, dass der Aufstand der „brennenden Jugend“ mit einem Akt der Selbstverbrennung einsetzte. In der Hymne „Partir loin“ beschreibt die Rap-Band „Reda Taliani 113“ das Lebensgefühl der „harraga“, der Brennenden, etwa in dem Ausruf: „Wir leben hier mit Dieben!“ Überall in der Jugend war zu spüren, dass Aufstand in der Luft liegt. Während man das explosive Lebensgefühl mit Händen greifen konnte, stand die alltägliche Unterdrückung dazu in massivem Kontrast. Meine Recherche musste ich den Verhältnissen anpassen, Forschungsnotizen habe ich immer sofort vom Internetcafé aus auf meine Festplatte gesendet, sodass man bei mir nichts finden konnte und ich keine Gesprächspartner in Gefahr brachte. Zweimal hat mich die Polizei am Hafen von Sfax verhört. Auch in Algerien existiert der musikalische Protest der „harraga“, etwa in der Rap-Zeile „el harga ouala houma“ – „Lieber Feuer, als diese Leute, dieses Pack.“ Gemeint ist das Regime.

Wie ist das Verhältnis der Generationen in Tunesien zueinander?

Zwischen den Generationen gibt es große Unterschiede. Manche der Küstenbewohner Tunesiens sind Remigranten aus Sizilien. Diese Älteren, die aus Europa zurückgekommen sind, nennt man „Chibenis“, die Weißhaarigen. Sie schuften legal in Europa und kehrten zu jedem Ramadan zurück, beladen mit Kühlschränken, Waschmaschinen. Jugendliche haben eine andere Vorstellung vom guten Leben als die Eltern oder Großeltern, die sich als Gastarbeiter ausbeuten ließen, etwa in Sizilien, wo es bis heute große Communities von Tunesiern gibt, die sich dort in der Fischereiwirtschaft zugrunde richten. Jungen Professionellen aus Tunesien aber geht es um persönliches und politisches Freisein.

Ist das Verhältnis zu Europa ambivalent: einerseits ökonomisches Paradies, andererseits Kontinent der üblen Colons von einst?

Solche Klischees verlieren an Gültigkeit. Es ist eine andere Jugend herangewachsen – sie sind gut ausgebildet, empfinden sich als Europäer und wollen mit dem orientalistischen Bild des rückständigen Arabers nichts zu tun haben. In den Ländern Nordafrikas ist eine Europäisierung von unten zu beobachten. Die jungen Leute leben eine Flugstunde von Italien, Spanien entfernt. Sie nutzen die sozialen Netzwerke, die medialen Informationskanäle. Sie sind längst im modernen Europa angekommen, waren aber im Korsett ihrer korrupten Regime gefangen.

Wie kommt es, dass der soziale Sprengstoff in der Region im Westen nicht erkannt wurde?

Die meisten sogenannten westlichen Experten in Nordafrika – Firmenmitarbeiter, Diplomaten, Korrespondenten, Archäologen – wissen schlicht wenig von den Leuten vor Ort. Man redet mal mit der Putzfrau, hat eine Konversation im Club mit dem Kellner am Pool, im Laden mit dem Fischverkäufer oder im Taxi mit dem Chauffeur. Tiefer gehenden Kontakt zur Bevölkerung und deren Nöten und Wünschen stellt man so aber nicht her. Da sehe ich die Notwendigkeit unseres Fachs, der Ethnologie. Wir können in langfristigen Feldstudien mehr Erkenntnisse gewinnen als die meisten anderen, auch weil wir zusätzlich über fachliche Deutungs- und Auswertungsinstrumente verfügen. Verdrängt wird übrigens oft der Kontext zwischen der Korruption in Nordafrika und Europa. Erinnern wir uns, Italiens ehemaliger Premier Bettino Craxi fand nach der italienischen Bewegung gegen die Korruption „mani pulite“ („die sauberen Hände“, Anm. d. Red.) Asyl in Tunesien. Er starb dort 2000 im Badeort Hammamet. Es ist bezeichnend, dass Berlusconi Ruby, eine Prostituierte aus Marokko, bei der Polizei als eine Nichte von Präsident Mubarak ausgab.

Wie beurteilen Sie die westlichen Reaktionen auf den Aufstand in Nordafrika?

Es kommt darauf an, langfristig zu denken. Die „Festung Europa“ ist so wenig ein produktives Konzept wie Stabilität um jeden Preis. Die Leute dort haben nichts davon, wenn wir mit linker Revolutionsromantik unsere Wünsche auf sie projizieren. Und sie haben nichts davon, wenn man sich in rechtem Stabilitätsbeharren mit einem neuen, autoritären Status quo abfindet. Wir müssen die Augen dafür öffnen, was dieser Aufbruch politisch für Europa bedeutet. Millionen moderner Araber lassen sich nicht länger bevormunden, weder vom Orient noch Okzident.

Das Gespräch führte Caroline Fetscher.

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