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Kultur: EU-Balkangipfel: Der ewige Führerkult

Der Sieg gegen Milosevic ist eine gute Sache, und bisher enthalten sich die neuen Regierungspolitiker großer Worte oder großer Gesten. Es hat den Anschein, als wollten sie weder "große Männer" werden noch sich an das Volk, als ein "Großes Volk" wenden.

Der Sieg gegen Milosevic ist eine gute Sache, und bisher enthalten sich die neuen Regierungspolitiker großer Worte oder großer Gesten. Es hat den Anschein, als wollten sie weder "große Männer" werden noch sich an das Volk, als ein "Großes Volk" wenden. Die Inauguration des neuen Staatschefs war kurz, ohne Pomp, Fanfaren, Kirchengeläut und Ehrensalven. Sein Eid auf die Verfassung ähnelte in keinem Augenblick der heiligen Vermählung eines Führers mit seinem Volk. Diese Zeremonie erinnerte eher an eine schlichte standesamtliche Trauung. Der neue Präsident unterließ es ebenso, etwas zu küssen: weder den Boden, noch eine Ikone, geschweige denn die Nationalfahne. Er wandte sich an die Bürger nicht mit einer Rede über Helden, Sieg und Ruhm. Stattdessen stellte sich Vojislav Kostunica in einer Fernsehsendung den Fragen der Zuschauer. Niemals zuvor hat sich ein Chef Serbiens auf diese Weise mit den Bürgern unterhalten.

Es ist nicht einfach, autokratische Herrschaft zu festigen und ein Volk dazu zu brin-gen, seinen Führer wie einen Gott zu verehren. Doch es scheint, dass es nicht viel leichter ist, das entgegensetzte Ziel zu verwirklichen, die Menschen ihrer schlechten Gewohnheit zu entwöhnen, im Schatten des unberührbaren Führers zu leben und zu sterben, gebannt und verzaubert von dessen vergifteten, aber süßen Worten. Das Volk hat den Zusammenbruch des Milosevic-Regimes schnell akzeptiert, viele mit Erleichterung und Begeisterung. Doch für viele war diese Nachricht nicht gut genug, denn sie war nicht vollständig. Sie verkündete den Tod eines Führers, eines Bildes, eines Namens, einer Geschichte. Ein neuer Name wurde jedoch nicht genannt. In den nun leeren Rahmen des Präsidentenportraits wurde kein Bild des neuen Chefs eingefügt. Es erschien lediglich ein gewisser Herr Kostunica in der Funktion des neu gewählten Präsidenten der Bundesrepublik Jugoslawien. Dieser ähnelt dem ehemaligen Chef nicht nur in keiner Weise; er denkt gar nicht daran, jene große Lücke zu schließen, und will auch nicht in die nun frei gewordene Präsidenten-Villa umziehen.

Viele Menschen in Serbien können sich nur schwer damit abfinden. Die Verlautba-rung des politischen Todes von Milosevic versuchten viele auf eigene Faust mit der Verkündung der Ankunft eines neuen Messias zu kompensieren, indem sie riefen: "Sloba ist tot! Es lebe Voja!" Sie verlangen danach, vor und über sich einen Großen, einen Weisen zu haben, der die Residenz ausfüllen und ihnen von diesem Ort aus sagen würde, was sie wissen und denken sollen. Der Belgrader Psychologe Miklos Biro sprach unlängst über die schwierige Gewöhnung an Demokratie und ein Leben ohne großen Führer, und erwähnte dabei die panische Reaktion einer Verwandten. Auf die Ankündigung des neuen Präsidenten, dass er nur eineinhalb Jahre in diesem Amt bleiben wolle, schreckte diese auf: "Was hat dieser Mensch denn nur, wenn er sagt, er will nur kurz Präsident sein? Wir haben ihn doch eben erst gefunden!".

"Politika", eine Tageszeitung die Milosevic treu zur Seite stand und nun versucht, sich bei der neuen Regierung einzuschmeicheln, druckte den offenen Brief einer Leserin, der sich an Kostunica richtet. Dort wird er als große Persönlichkeit beschrieben, "die über einen ganz besonderen Intellekt verfügt, der in seinem Blick deutlich wird, der aufrichtig, aber auch stählern ist, durch die Geste der starken Hand und die Macht warmer menschlicher Worte". Ich hätte ihr gerne die Frage gestellt: Meine Dame, haben Sie denn schon vergessen, dass uns ein solcher Typ mit stählernem Blick und warmen Worten mehr als zehn Jahre lang geplagt hat?

Ich hoffe, dass die neue demokratische Regierung in Serbien weiterhin gegen Ratschläge und Wünsche immun sein wird, die darauf abzielen, die serbische Politik im großen Stil zu führen, koste es, was es wolle. Solche Vorschläge aber kommen von allen Seiten. Wir hören, dass Politik das Werk des großen Chefs und überhaupt großer Persönlichkeiten sein muss. Oft ist der Hinweis beigemischt, dass ein großartiges Volk eben eine großartige Führung braucht. Keiner weiß, wann diese Erzählung entstanden ist, doch in der Propaganda Milosevics erlebte sie eine neue Blüte. Sie diente dazu, das Elend, in dem wir lebten, als würdevolle Selbstaufopferung des serbischen Volkes darzustellen, des einzigen gerechtigkeitsliebenden Volkes, das von furchtbaren und übermächtigen Feinden umgeben ist. Dieses Leiden verstehe das serbische Volk als Opfer, das für die Errettung der Menschheit dargebracht werden müsse. Sie erklärten uns, dass unser Opfer von der in Sünde lebenden Menschheit noch nicht begriffen werde, doch dass sie uns eines Tages den zustehenden Dank dafür aussprechen werde.

Dieser Augenblick ist endlich gekommen, folgt man einigen Erklärungen und Kommentaren. Darin wird die Demontage Milosevics als unvergleichliches Ereignis beschrieben, als Tat von planetarischen Ausmaßen, wodurch das Volk ein Beispiel gegeben hat, wie die Freiheit geküsst und erobert wird. "Die Welt bewundert die serbische Freiheitsliebe und zeigt nun Bereitschaft zu helfen", erklärt uns ein geistlicher Publizist. Demnach "bewundert" uns nun die Welt, doch ohne zu wissen weshalb. So wie sie uns zuvor ohne Grund "gehasst" hat. Ebenso sprechen die so genannten serbischen Patrioten - die bis gestern noch vor Milosevics Karren gespannt waren und sich nun als Demokratiechampions präsentieren - gerne davon, dass es in der Welt zwar Verstand gibt, es jedoch an Herz und Seele mangelt. Solche Organe des Gefühls, des Glaubens und des Gerechtigkeitssinns sind nur in der serbischen Brust zu finden, eventuell auch bei einigen anderen Balkanvölkern. Daher, so fahren unsere Patrioten fort, auch das permanente Missverständnis zwischen uns und der Welt. Auch wenn die Welt uns liebt, bleibt dieses Missverständnis.

Dies gilt auch für die ausländischen Journalisten, welche die "serbische demokrati-sche Revolution" verfolgt haben. In einer Zeitungsreportage kann man lesen, dass der 5. Oktober bei diesen Journalisten ein merkwürdiges Gefühl ausgelöst habe, das die englische Schriftstellerin Rebecca West schon in den vierziger Jahren beschrieb: "Auf einmal waren sie irrational verliebt in die Serben". Nicht einmal Prinz Aleksandar Karadjordjevic konnte diesem Allgemeinplatz pseudo-patriotischer Rhetorik widerstehen. Er erklärte, er sei nach Belgrad gekommen, "jenes Volk zu begrüßen, das Europa und die Welt erneut beeindruckt hat". Unklar bleibt, welche vormaligen beeindruckenden serbischen Taten Prinz Aleksandar im Sinn hatte. Ich hoffe jedenfalls, dass er dabei nicht an die Ereignisse der letzten zehn Jahren dachte.

Die Liste der Gefahren, Probleme, Versuchungen und Barrieren für die neue demokratische Regierung ist lang. Irgendwo an der Spitze dieser Liste sehe ich das Problem der Abschaffung einer politischen Rhetorik, die auf Figuren und Vorstellungen gründet, die kaum mit einer Demokratie vereinbar sind. Darunter finden sich auch die erwähnten Figuren des Großen Führers und des Großen Volkes. Eine neue demokratische Regierung muss es ablehnen, ihre Ideen und Vorstellungen in dem anachronistischen Gebäude des so genannten "Himmlischen Serbien" anzusiedeln. Das ist keine Frage der Bescheidenheit, sondern eine Frage der politischen Sinngebung.

Ivan Colovic

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