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Europäischer Filmpreis für "Cold War": Schutzräume vor der Zwietracht

Europäischer Filmpreis in Sevilla: Fünffacher Sieg für Pawel Pawlikowskis Drama „Cold War“. Marie Bäumer ging für ihre Darstellung Romy Schneiders leer aus.

Von Andreas Busche

Ein Sieger stand schon fest, bevor am Samstagabend im spanischen Sevilla zum 31. Mal der Europäische Filmpreis verliehen wurde. Alle fünf Nominierten in der Kategorie „Bester Film“ hatten ihre Premieren in Cannes erlebt. Venedig war dieses Jahr gar nicht vertreten, auch die Berlinale fand nur in den Nebenkategorien statt. Es mag nicht mehr als eine Momentaufnahme sein, zumal Cannes seit jeher als Bastion des europäischen Arthousekinos gilt. Doch man könnte in der Entscheidung der Filmakademie auch ein beruhigendes Signal an die europäischen Produzenten im aktuellen Streit mit den amerikanischen Streamingdiensten verstehen (in dem Berlin sich bislang angenehm zurückhält): Wer in Zukunft großes Kino machen möchte, ist in Cannes gut aufgehoben.

Auch sonst war die Preisverleihung in dem zur Expo 1992 erbauten Teatro de la Maestranza eine einseitige Angelegenheit. Mit fünf Auszeichnungen in den Kategorien „Bester Film“, „Beste Regie“, „Beste Hauptdarstellerin“, „Bestes Drehbuch“ und „Bester Schnitt“ geht das Nachkriegsliebesdrama „Cold War“ von Pawel Pawlikowski als großer Gewinner aus dem Abend hervor. Der polnische Regisseur wiederholt damit seinen Siegeszug von 2014, als sein Film „Ida“ in vier Kategorien gewann. Die Entscheidung kommt keineswegs überraschend, war in dieser Deutlichkeit jedoch nicht zu erwarten. So vielseitig wie dieses Jahr hat die Konkurrenz lange nicht mehr ausgesehen.

Etwas mehr Farbe hätte die Gala vertragen können

Lukas Dhont darf sich mit seinem Transgender-Drama über eine junge Ballerina, die auf ihre Geschlechtsangleichung wartet, wenigstens über den FIPRESCI-Preis als „Newcomer das Jahres“ freuen, Marcello Fonte gewann für seine Rolle eines unterwürfigen Hundefriseurs in Matteo Garones Machismo-Farce „Dogman“ – wie zuvor in Cannes – den Preis für den besten Darsteller. Alice Rohrwachers „Glücklich wie Lazzaro“ und die norwegische Troll-Romanze „Border“ von Ali Abbasi gingen leer aus. Wie auch Marie Bäumer, die sich mit ihrer Darstellung Romy Schneiders in „3 Tage in Quiberon" gute Chancen ausgerechnet hatte. Immerhin wurden Christoph M. Kaiser und Julian Maas für ihre Filmmusik ausgezeichnet, ebenso André Bendocchi-Alves und Martin Steyer für das Sounddesign der Wehrmachts-Köpenickiade „Der Hauptmann“.

Etwas mehr Farbe hätte die Gala also vertragen können, und damit ist nicht nur die bestechende Schwarzweiß-Fotografie des Gewinnerfilms gemeint. Ein Pärchen im Nachkriegspolen, das haltlos durch ein politisch zerrissenes Europa treibt; sie eine erfolgreiche Sängerin, die ihren Geliebten, einen regimekritischen Jazzmusiker, an die Kommunisten verrät: Die Geschichte von „Cold War“ besitzt eine frappierende Gegenwärtigkeit. Sie spiegelt sich auch in den Reden vieler Laudatoren wider, die sich beharrlich gegen die gesellschaftlichen Fliehkräfte stemmen, welche Europa derzeit auseinanderdriften lassen. Dennoch wirken die wohlfeilen Worte schon ein wenig verzweifelt, im Grunde hat sich im zurückliegenden Jahr ja nichts verändert.

Die russischen Regisseure Oleg Sentsow und Kirill Serebrennikow, an die die Europäische Filmakademie zu Beginn der Verleihung erinnert, stehen noch immer unter Anklage, und selbst in Frankreich zeichnet sich allmählich ein Rechtsruck ab. Der Aufstand der Unzufriedenen hat es bis nach Sevilla geschafft. Am Tag der Preisverleihung protestieren einige hundert „Gelbwesten“ vor dem architektonischen Saurierskelett namens Antiquarium für sichere Renten.

Das Kino weiß gerade nicht, was es von Europa halten soll

Auf die Frage, was dieses Europa denn nun sei, findet das Kino vorerst keine Antwort. Wie auch? Es kann lediglich als Schutzraum gegen den „Diskurs der Zwietracht“ dienen, so der britische Schauspieler Ralph Fiennes. „Einen Ort, um frei zu atmen“, nennt Fiennes dieses Europa in einer ausgesprochen nüchternen Dankesrede für die Auszeichnung „Beitrag zum Weltkino“. Ob es heute noch möglich sei, sich gleichzeitig als Engländer und als Europäer zu fühlen? Absolut. Nur findet dieses gebetsmühlenartige Beharren dann letztlich wenig Resonanz in der gut dreistündigen Gala, in die sich gelegentlich auch ein harmloser „MeToo“-Seitenhieb verirrt, die mit ihrer angestaubten Kulenkampff-Wurschtigkeit (die Sketche finden am Bartresen statt) aber viel Potential verschenkt.

Dabei wäre Sevilla der perfekte Ort, um zu überlegen, was genau es mit diesem vielbeschworenen europäischen Geist eigentlich auf sich hat. Die Küste Afrikas ist keine 200 Kilometer entfernt, woran schon die unzähligen Straßenhändler in der pittoresken Altstadt erinnern. Das Erbe der Mauren, die bis ins 12. Jahrhundert kulturelle Hoheit auf der iberischen Halbinsel ausübten, hat in Sevilla bis in die Architektur Spuren hinterlassen: Der mittelalterliche Königspalast Alcázar, neben der Kathedrale das Wahrzeichen der Stadt, wurde auf dem Fundament einer maurischen Festung errichtet. „Al-Andalus“, die Epoche des arabisch geprägten Spaniens, gilt bis heute als historisches Vorbild eines friedlichen Multikulturalismus quer durch die Religionen.

Darauf hätte die Filmakademie durchaus kommen können, um dem Reden von einem geeinten Europa zur Abwechslung mal einen konkreten Entwurf zur Seite zu stellen. Oder man hätte thematisieren können, dass sich unter den fünf Nominierten im Regiefach, trotz eines klugen Panels am Vormittag über die Rolle von weiblichen Filmschaffenden im europäischen Kino, mit Alice Rohrwacher wieder nur eine einzige Regisseurin befand. Vielleicht aber muss man dieses Europa, wie auch das europäische Kino, als ein Projekt im stetigen Werden begreifen. Der gute Wille war in Sevilla zweifellos zu erkennen.

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