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Kultur: Europas Balkon

Nicht Paris, nicht Bagdad: Warum Georgien auf seiner abendländischen Identität beharrt

Der seit langem schwelende Konflikt ist zum Krieg eskaliert. Im Kampf um Südossetien zeigen sich die Spannungen, unter denen Georgien nicht erst seit seiner Unabhängigkeit 1991 steht. Anfang des 19. Jahrhunderts geriet der Kaukasus zuerst unter russische, dann unter sowjetische Vorherrschaft. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist Georgien auf der Suche nach seiner Rolle im weltpolitischen Gefüge. Dabei bekommt eine auf den ersten Blick banal scheinende Frage neue Aktualität, die schon in den vergangenen Jahrhunderten kontrovers diskutiert wurde: Wo genau liegt Georgien?

Für das georgische Tourismusministerium liegen die Dinge eindeutig. „Europe started here“, verkündet es selbstbewusst. Und hat starke Argumente in Form zweier Hauptzeugen: die griechische Antike und das Christentum. Der von Zeus zur Strafe für seinen Feuerraub an den Felsen des Kaukasus geschmiedete Prometheus ist Georgiens Kulturbringer schlechthin. Und der georgische König Mirian erklärte schon 337 das Christentum zur Staatsreligion – nur Nachbar Armenien hat eine ein paar Jahre länger währende christliche Tradition.

Der deutsche Schriftsteller Friedrich Bodenstedt, der Mitte des 19. Jahrhunderts zwei Jahre in Georgien verbrachte, bezeichnete den Kaukasus als „Mauer, daran die Völkerwogen sich brachen, welche aus Mittelasien einst über Europa herabstürzten.“ Streng geografisch gesehen in Westasien liegend, steht Georgien als Grenzland für das Trennende und das Verbindende zugleich, ist es als Schnittstelle, Kreuzung und Brücke Teil Europas und seiner Geschichte. Und liegt doch außerhalb. Weder im Westen noch im Osten gelegen, ist es „nicht Paris und nicht Bagdad“, wie es der jüdisch-russische Dichter Ossip Mandelstam 1922 auf eine griffige Formel brachte.

Das multiethnische und vielsprachige Land war und ist arabisch, byzantinisch, persisch, russisch, hellenistisch, christlich, muslimisch und sowjetisch geprägt, verwirrend vielfältig und eigen, genauso Ostblock wie Orient, ein Umstand, auf den mit Stolz verwiesen wird, der aber Gefahren birgt. Während des Kalten Krieges befand sich Georgien als Teil der Sowjetunion im toten Winkel der westlichen Wahrnehmung und geriet in Vergessenheit. Für die Georgier jedoch war ihr Land schon immer der „Balkon Europas“, was oft zu unfreiwillig komischen Missverständnissen führte. Europäische Reisende schwärmten von der paradiesischen Landschaft des Kaukasus, von seinem orientalischen Zauber, von den rauen Sitten seiner Bergvölker. 1859 reiste der französische Dichter Alexandre Dumas in kaukasischer Tracht samt Dolch in das längst europäisierte Tiflis und verlangte nach Räubern und Harem – seine befrackten Gastgeber aber offerierten ihm Oper, Theater und Bälle.

Im Georgien der Gegenwart regieren die Ungleichzeitigkeiten. Vieles geht überkreuz und wirkt skurril. In Gori etwa, einer Kleinstadt im Landesinnern, ist man ungebrochen stolz auf Stalin, der als größter Sohn der Stadt gilt. Ein monströses Museum verherrlicht Stalin und die vermeintliche Größe der Sowjetunion. Dennoch geht man mit der Zeit: Die politisch inkorrekten Stalin-T-Shirts im Museumsshop sind „Made in Turkey“ – ein weiterer Beleg für die Komplexität der georgischen Gegenwart mit ihren Widersprüchen.

Der Topos von Georgien als eigenartigem Gemisch aus Orient und Okzident zieht sich bis in unsere Tage. Aber es gibt auch Ansätze, sich in anderen Kontexten zu verorten. In Batumi, einer allen sowjetischen Architektursünden zum Trotz malerischen, am Schwarzen Meer gelegenen Hafenstadt, machte man sich im Mai auf einer von der Universität Tiflis organisierten Tagung Gedanken über die Identität der Schwarzmeeranrainer. Archäologen, Historiker, Politologen und Kulturwissenschaftler aus Georgien, Rumänien, der Türkei, der Schweiz und Deutschland fragten nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden und stellten vor allem geostrategische, auch russlandkritische Überlegungen an, die um die bedeutende Rolle der Region als Transitstrecke für Öl und Gas vom Kaspischen Meer kreisten. Die teils angestrengte Suche nach einem gemeinsamen Nenner für das Gebiet zwischen Balkan und Kaukasus, Krim und Anatolien bewegte sich im Grenzbereich von Geschichte, Mythos und machtpolitischem Kalkül.

Traditionell geht man in der Kaukasus-Region gelassen mit ethnischen, religiösen und kulturellen Unterschieden um. Und ausgerechnet die modernen Emanzipations- und Unabhängigkeitsbestrebungen sind es, unter deren Räder diese Tradition heute zu geraten droht. Südossetien ist dafür ein Beispiel, die „abtrünnige Republik“ Abchasien, die Georgien ebenfalls für sich beansprucht, ein anderes. Politisch strebt das etwa 4,5 Millionen Einwohner zählende Georgien in die Nato und Richtung EU. Präsident Michail Saakaschwili will ein „neues, demokratisches und modernes europäisches Land aufbauen.“ Seit der Rosenrevolution 2003 war ein Aufbruch zu spüren gewesen, auch wenn allzu großer Optimismus immer wieder durch offensichtliche Demokratiemängel, wie zuletzt die Verhängung des Ausnahmezustandes im November letzten Jahres, die prekäre Wirtschaftslage und drückende Arbeitslosigkeit unterminiert wurde.

Mit dem Krieg um Südossetien rückt die Aufnahme von Nato-Beitrittsverhandlungen in weite Ferne. Schon auf dem Nato-Gipfel in Bukarest wurde im April der Aktionsplan für die Mitgliedschaft auf Eis gelegt. Perspektivisch ist der Beitritt aber, gegen lautstarken russischen Protest, im Grundsatz beschlossen worden. Vor dem Hintergrund der aktuellen Situation ist das fast trotzige Beharren vieler Georgier auf ihrer europäischen Identität zu verstehen. Und die zunächst verstörende Tatsache, dass vor den Ministerien in Tiflis neben der georgischen die EU-Flagge weht, unterstreicht die These, die Begeisterung für Europa sei außerhalb der EU größer als innerhalb.

Darüber, ob die Wiege Europas im Kaukasus stand, lässt sich trefflich streiten. Darüber, ob Europa im Kaukasus eine Zukunft hat, wohl auch. Wenn sich aber solche Fragen, wie nun in Südossetien, mit handfesten machtpolitischen Ansprüchen und geostrategischen Überlegungen vermischen, werden sie leicht zur Argumentationshilfe der Konfliktparteien.

Andreas Pflitsch

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