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Kultur: Expedition ins Afrika der Seele

Herodot aus Hamburg-Lokstedt: Zwanzig Jahre nach seinem Tod wird der Schriftsteller Hubert Fichte wiederentdeckt

Hubert Fichte war einer der großen Forschungsreisenden der Literatur. Aufbrüche im Raum und Passagen durch die Zeit charakterisieren sein Werk von Anfang an, und das in einer Weise, die in Deutschland bis heute einzigartig ist. Sich in die Fremde zu begeben, hieß dabei für ihn, das eigene innere Afrika mit demselben Ernst zu erkunden wie die Kontinente einer so genannten Dritten Welt, deren spiritueller Reichtum oft in größtem Kontrast steht zur erbarmungswürdigen Wirklichkeit eines postkolonialen Alltags.

Als Historiograf und Ethnologe, Sozialwissenschaftler und Linguist zeichnete er uns Karten von Landschaften, auf denen das Nächstliegende mit dem Entferntesten verknüpft ist. Erstaunliche Karten, die Salvador de Bahia oder Port au Prince in die Nachbarschaft des heimatlichen St. Pauli rücken. Wobei seine Fähigkeit, das Vertraute im ganz anderen zu entdecken, die Unterschiede niemals aufhebt, sondern sie akzentuiert als die beiden Seiten einer Medaille – mag es sich um die Initiationszeremonien des haitianischen Voodoo handeln oder die Rituale einer Pubertät im kriegszerstörten Hamburg.

Alles beginnt mit einem katholischen Waisenhaus in Bayern, in dem die Mutter das 1935 unehelich geborene Kind unterbringt, um es vor der Verfolgung durch den Nationalsozialismus zu schützen. Fichte schreibt über diese prägende Erfahrung: „Die Drohung mit dem KZ bis zum zehnten Lebensjahr, weil ich Halbjude war.“ Und über jene zweite, die seine Existenz nach der Befreiung wesentlich bestimmen wird: „Die Drohung mit dem Zuchthaus, weil ich schwul war.“ Aus der Position des doppelten Außenseiters bezieht er das Rohmaterial seines Schreibens, für das er ein Leben lang nach Formen sucht. Nach den Möglichkeiten einer Sprache jenseits des Biografischen, die geeignet wäre, den Mechanismen von Ausschluss, Anpassung und Widerständigkeit narrative Gestalt zu geben.

Fast zwingend erscheint es im Rückblick, dass er sich schnell denjenigen zuwendet, die im Jargon der Verwaltung als soziale Randgruppe firmieren, seien es frühe Dropouts in einem Kellerlokal namens „Palette“, seien es die Prostituierten und Zuhälter des Hamburger Kiezes, mit denen er umfangreiche Interviews führt. Dass Fichte sein Erkenntnisinteresse nie von seinem sexuellen Begehren abkoppelt und stattdessen ihre Verschränkung als Ausgangspunkt seiner literarischen Arbeit immer reflektiert, trägt nicht wenig zum Reiz seiner Romane, Hörstücke und Dokumentationen bei. Tatsächlich eine universale „Geschichte der Empfindlichkeit“, wie die größtenteils posthum erschienene, auf 19 Bände angelegte Summe seines Werks betitelt ist.

Rassische Verfolgung, Bombenangriffe, das Weiterleben im zerstörten Hamburg der Nachkriegsjahre liefern den Stoff seiner ersten Bücher, in denen die unausweichliche Konfrontation mit dem Tod auf der Erfahrungshöhe des Kindes und Heranwachsenden zum Thema wird: beinahe nüchtern registriert, als würde jede dramaturgische Bearbeitung, jeder zugespitzte Plot den Schrecken nur verkleinern, die erlittenen Traumata nur kulinarisch aufbereiten können. Schon hier ist es die Perspektive des Forschers, der seine Beteiligung am Geschehen zwar nicht leugnet, aber jene Distanz zu wahren versucht, die allein erst den Raum für poetische Objektivität schafft.

In seinem Roman „Detlefs Imitationen ,Grünspan‘“ gelingt es Fichte, die Zerstörung Hamburgs aus der Luft eindrucksvoll in Literatur zu verwandeln. Dies ist jenem Abstand zu sich selbst geschuldet, dem die Brüche und Diskontinuitäten von Wahrnehmung nicht äußerlich sind, sondern der sie als Produktionsinstanz immer mitbedenkt. Kein Wunder, dass Fichtes Schilderung wenig zur nationalen Einvernahme taugt und er sich als Opfer (auch wenn er das Wort nie gebraucht) jedem Opferdiskurs entzieht.

Und dann der Popstar. Was für ein Missverständnis! Nach einer Lesung Ende der sechziger Jahre aus dem Roman „Die Palette“ im Hamburger „Star Club“, bei der eine Beatband für die Begleitmusik gesorgt hatte, fand sich Fichte plötzlich in der Gesellschaft von Autoren wie Rolf Dieter Brinkmann und Uwe Brandner wieder. Doch immerhin katapultierte die mediale Aufmerksamkeit das Buch bis auf die Bestsellerliste des „Spiegel“.

Es ist die Geschichte einer Souterrain-Spelunke, die sich über ein Generationenporträt hinaus collagenartig ausweitet zur Bestandsaufnahme einer Gegenwart, deren Vergangenheit aus allen ihren Gesten spricht, aus ihren Redewendungen und subkulturellen Codes, so lässig und so hip man sich dort unten auch eingerichtet hat. Ein Milieu von Eingeweihten, in das einzudringen ethnologisches Gespür verlangt, das Wissen um seine ungeschriebenen Regeln und Gesetze. Feldforschung, die im Prinzip nicht sehr viel anders funktioniert als auf den Territorien, denen Fichtes Interesse seit den frühen siebziger Jahren galt, und die er zusammen mit der Fotografin Leonore Mau auf zahllosen Reisen von Brasilien bis in den Senegal durchquerte.

Synkretismus heißt das Stichwort, die Vermischung von Herkünften, Sprachen, Zauberformeln und Götterhimmeln in den religiösen Kulten ehemaliger Sklavenarbeiter in der Karibik und in Südamerika, die er mit beispielloser Akribie dokumentierte, ohne sich im Detail zu verlieren – Berichte, die Romane sind, und Romane, die genug Material enthalten, um so manchen Kulturwissenschaftler in seinem Universitätsbüro zu beschämen. Recherche im Zustand der Bewegung, Texte, die flirren vor Sinnlichkeit.

Hubert Fichte hat uns in seiner immensen Produktivität ein Universum hinterlassen, das aus nichts als Worten besteht und in seiner Größe und Schönheit doch weit über alle Worte hinausweist. Es ist die Welt selber, die wir bei ihm wie bei jedem Autor seines Ranges finden, dem Herodot einer Geschichte, die den Marginalisierten, den Outsidern und Vergessenen unserer Zeit wieder ein Gesicht verleiht, in dem sich jeder, der ihn zu lesen versteht, entdecken kann. Sollte er nicht vor der Erkenntnis zurückschrecken, dass ihre Gegenwart vielleicht unsere Zukunft ist und unsere Gegenwart außerordentlich beschränkt, ja verblendet erscheint im Licht ihrer Erfahrungen.

Aus einem bescheidenen Vorstadthaus in Hamburg-Lokstedt aufgebrochen, wurde Fichte bis zu seinem frühen Tod vor zwanzig Jahren zu einem der wichtigsten Kartografen der deutschsprachigen Literatur, dessen Arbeit noch längst nicht ganz erschlossen ist. Gründe genug, sofort mit der Lektüre von Fichte anzufangen.

Ulrich Peltzer, geboren 1956, lebt als Schriftsteller in Berlin. Zuletzt veröffentlichte er im Zürcher Ammann Verlag die Erzählung „Bryant Park“. Im Januar 2007 erscheint dort sein Roman „Sony Center“.

Ulrich Peltzer

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