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Kultur: Expo 2000: "How you look at it": Fotografie des 20. Jahrhunderts im Expo-Kulturprogramm

Der Schaukelstuhl in einer Bergarbeiterwohnung in West Virginia. Filmpremiere in Hollywood.

Der Schaukelstuhl in einer Bergarbeiterwohnung in West Virginia. Filmpremiere in Hollywood. Sommer in Mississippi, die Wallstreet in New York, der Federal Boulevard in Denver: Die Abwesenheit der USA auf der Expo soll anscheinend durch deren Präsenz im Sprengel-Museum wettgemacht werden. Unter dem Titel "How you look at it" versucht die Hannoversche Institution, mit 500 Fotos eine "Best-of"-Show der künstlerischen Fotografie des 20. Jahrhunderts zu bieten. Knapp die Hälfte der 37 beteiligten Fotografen stammt vom nordamerikanischen Kontinent. Vorgestellt wird allerdings nur jene "realistische" Fotografie, die auf ihrem Abbildcharakter vertraut. Damit schließt man Strömungen wie den Surrealismus oder die Abstraktion leider aus.

Stattdessen finden sich die Expo-Themen Mensch, Natur, Technik unter anderem Namen wieder: Mobilität, Urbanität, Technik, Kommunikation heißen die Stichworte, mit denen Thomas Weski und Heinz Liesbrock eine fotografische Phänomenologie des 20. Jahrhundert wagen. Durch geschickte Kombination der Fotos mit Werken der Moderne von Degas bis Bruce Nauman gewinnen die Kuratoren dem Fotomaterial außerdem neue Perspektiven ab.

Aber gibt es überhaupt eine Ästhetik der Fotografie des 20. Jahrhunderts? Im 19. Jahrhundert formulierte sie ihren ästhetischen Anspruch noch in der Nachahmung anderer Kunstformen. Erst als sie sich auf ihre Fähigkeit besann, die denkbar treueste Abbildung der Realität zu liefern, hatte sie ihre Domäne gefunden. Nun kann sie aber bekanntlich nicht viel mehr, als Oberflächen abzubilden. Schon Brecht hatte bemängelt, "dass weniger denn je eine einfache Wiedergabe der Realität etwas über die Realität aussagt". Auch die fotografische Kunstform bildet die Lebenswelt also nicht einfach ab, sondern kommentiert sie. Dabei kommt es nicht darauf an, ob August Sander mit seinem "Antlitz der Zeit", jenem soziologischen Fotoatlas der Weimarer Republik, mehr Authentizität beanspruchen darf als die meisten Geschichtsbücher. Er traf vielmehr beeindruckende künstlerische Aussagen über seine Zeit: Die Stärke der Fotografie liegt in der Verquickung des Dokumentarischen mit dem Subjektiven.

Den Anfang machen Eugène Atgets Pariser Straßenbilder vom Jahrhundertbeginn mit altersgebeugten Hauswänden, bröckelnden Fassaden. Von Aufbruch keine Spur: ein melancholisches memento mori auf die todgeweihten Dinge vormoderner Epochen. Betrachtet man daneben die Straßenszenen von Thomas Struth aus München, Düsseldorf oder New York, fällt eine beklemmende Nüchternheit auf. Den sachlich fotografierten, menschenleeren Straßen von Struth fehlt, was Walter Benjamin in den Fotografien des 19. Jahrhunderts ausmachen konnte: Aura.

Auch die Landschaft des 20. Jahrhunderts verändert sich: In Robert Adams Foto aus den Sechzigern steht der einst Wilde Westen der USA zum Verkauf. Und bei Andreas Gurskys farbigen Riesenabzügen besteht die Umwelt nur noch aus Supermarkt und Börse. Menschen sind nur noch Ornament zwischen Warenbergen oder Teil einer chaotisch brodelnden Masse inmitten von Monitoren. Was auf diesen Bildern fehlt, die menschliche Physiognomie, zeigt dagegen Michael Schmidts kürzlich entstandene Serie von jungen "Frauen". Teils nackt, teils bekleidet, stehen Körper und Gesichter im weißen Nichts.

Was erfahren wir aus diesen Bildern? Im Vergleich zu Sanders "Antlitz der Zeit" fällt der Verlust früherer Verbindlichkeiten auf: Weder Klasse, Schicht, noch Stand sind dem Subjekt am Ende des Jahrhunderts noch eingeschrieben. Nur das nackte Fleisch (und das Geschlecht) bietet Gewissheit über die eigene Existenz. Im Zeitalter der Gentechnologie fragt man sich: Wie lange noch?

Ronald Berg

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