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Spur des Schreckens. Ein Passant fotografiert das zerstörte Haus in der Zwickauer Frühlingsstraße, in dem das sogenannte „Neonazi-Trio“ gewohnt hatte. Foto: Arno Burgi/dpa

© dpa

Extremismus: Sie gehören zu uns

Eine Gesellschaft, die Extremtäter wie die Zwickauer Neonazis oder Anders Breivik für gestört hält, macht es sich zu einfach. Der Sozialwissenschaftler und Psychologe Michael Buchholz warnt davor, vorschnell Gene, Gehirn oder eine schwere Kindheit werden für ihr Verhalten verantwortlich zu machen.

Von Caroline Fetscher

Nur der Zufall wollte es, dass Michael Buchholz, Sozialwissenschaftler und Psychologe an der Universität Göttingen, an diesem Tag mit anderen Urlaubern in Norwegen unterwegs war. Sie waren am 22. Juni 2011 keine vierzig Kilometer von der Insel Utøya entfernt, auf der gerade ein Massenmörder zur Exekution von jugendlichen Sozialdemokraten aufgetaucht war. Im Autoradio hörten die Urlauber schon kurz nach den ersten Meldungen zur Tat, es handle sich um einen Einzeltäter.

Für den Wissenschaftler, der sich unter anderem mit gewalttätigen Inhaftierten auseinandergesetzt hat, gehören solche Einschätzungen zu den typischen Formen gesellschaftlicher Abwehr. Man will nicht wahrhaben, dass eine Gruppe – wie jetzt das sogenannte „Nazi-Trio“ – Unterstützer, Sympathisanten hat, dass sie zu einem sozialen Netzwerk gehört und damit potenziell mit „uns anderen“ verknüpft wäre. Doch weder Tatmotiv noch Tatlegitimation entstehen im gesellschaftlichen Vakuum. „Auch ein Breivik“, so Buchholz, „muss ein Umfeld ideologischer Art besessen haben, für das er Texte ins Internet stellte, über das er mit Waffen und Sprengstoff versorgt worden sein muss. Umso bemerkenswerter, dass in den norwegischen Medien bereits wenige Stunden nach der Tat die Meldung verbreitet wurde, er sei Einzeltäter. Das konnte niemand zu diesem Zeitpunkt mit Sicherheit wissen.“

Jetzt haben forensische Psychiater in Norwegen den Massenmörder für schuldunfähig erklärt. Breivik reagierte empört: Die Gutachter hätten „nicht genügend Ahnung von politischen Ideologien“. Ist er verrückt? Michael Buchholz gehört zu den Fachleuten, die solche Diagnosen für problematisch halten. Wie „gestörtes Verhalten“ definiert werde, das könne „insgesamt weniger durch präzise Diagnostik beantwortet werden – vielen Beobachtern der psychiatrischen Diagnosesysteme fällt auf, wie sehr sich darin moralische Bewertungen im Mantel der Diagnostik durchsetzen.“

Selbstverständlich wird ein Sozialpsychologe die Gutachten über Breivik, die bei der Osloer Staatsanwaltschaft unter Verschluss lagern, nicht anzweifeln, solange er sie nicht gesehen hat. Zweifel haben aber immer mehr Wissenschaftler wie er, die in der Tradition von Freud und Foucault stehen, an dem Trend, angesichts solcher Täter pauschale Ursachen parat zu haben, geliefert von Neurowissenschaftlern, Psychoanalytikern, Gehirnforschern oder der Religion. Schuld seien die Gene, oder die Kindheit, oder das Gehirn oder aber „das Böse“. Solche Determinismen, warnt Buchholz, „fungieren als unsere modernen, abstrakten Sündenböcke.“ Sie „liefern Gründe und Abgründe, und befreien von der Last der Verantwortlichkeit, die wir akzeptieren müssen, wenn wir die Freiheiten in Anspruch nehmen, die uns moderne, demokratische Gesellschaften gewähren.“

Nach der Logik des „der Täter kann nichts dafür“ ließen sich in der Tat ganze Großgruppen, die im ethnischen oder religiösen Furor an massenhaftem Morden und Ausgrenzen „Anderer“ teilhaben, in Psychiatrien unterbringen. Wie sehr sich gewalttätige Straftäter selber aber inzwischen Erklärungsmodelle angeeignet haben, mit denen sie ihre Taten rechtfertigen oder bagatellisieren, hat Buchholz gemeinsam mit zwei Kolleginnen bei der jahrelangen Auswertung von Video- und Tonprotokollen beobachtet, die während gruppentherapeutischer Sitzungen mit Sexualstraftätern entstanden (Michael Buchholz, Franziska Lamott und Kathrin Mörtl: Tat-Sachen. Narrative von Sexualstraftätern. Gießen 2008).

Damit publizierten sie als Mitarbeiter der Forensischen Psychotherapie an der Universität Ulm die bundesweit erste gründliche Analyse dieser Art. Vieles lässt sich über Täter, und Mitmenschen überhaupt, gewissermaßen „auf der Oberfläche lesen“, sobald sie anfangen zu sprechen, erklärt der Göttinger Professor, dessen Publikationen sich viel mit Sprach- und Metaphernforschung befassen. Es gilt nur, diese Oberfläche nur entziffern. Dazu wandte das Ulmer Team Methoden der mikroanalytischen Gesprächsforschung an, und deutete etwa nonverbale Signale beim Sprechen, wie Zögern, Blinzeln, Themenwechsel, Räuspern, Pausen und Satzreparaturen. Im Inhalt des Gesprochenen selber tritt meist zutage, wie ein Täter sich definiert oder definiert wissen möchte. Kriminelle führen dabei inzwischen längst ihre, tatsächlich oft elende, Kindheit an. Zugleich distanzieren sie sich von der Tat, als sei ihnen diese zugestoßen: „Mir ist das passiert, dass ich dem Mädchen Gewalt angetan habe.“

Das Gehirn ist ein Beziehungsorgan

Pervertiertes Denken, etwa von Neonazis, gleichzusetzen mit Krankheit, kann ebenso irreführend sein, wie Kindheit als „Schicksal“ aufzufassen. „Kindheit bedeutet in der Psychoanalyse gerade nicht etwas Schicksalhaftes“, betont Michael Buchholz. „Sonst brauchte man sich mit ihr gar nicht therapeutisch zu befassen. Sie hat enormen Einfluss, aber sie legt nicht fest.“ Ebenso täuschten sich Neurowissenschaftler, wo sie behaupten, das Gehirn determiniere einen Menschen. „Das Gehirn“, sagt Buchholz, ist vielmehr ein Beziehungsorgan, das die Beziehungen eines Menschen zu seiner Umgebung reguliert. Genau genommen ist es ja auch nicht das Gehirn, sondern die Person. Sie handelt, sie reagiert, sie nimmt Stellung.“

Häufig, wenn ein Sexualstraftäter, nach vielen Stunden in der Therapie, bewusst zu begreifen beginnt, welches Ausmaß an Leid sein Verbrechen ausgelöst hat, bricht bei ihm das Gefüge aus Rechtfertigung und Verharmlosung zusammen. Nicht selten sind solche Täter dann suizidgefährdet; es wird deutlich, welch existenziellen Zweck ihre Mauer aus Abwehr erfüllt hat. Abwehr besteht also auf beiden Seiten: Beim Täter, der nicht wissen will, was er tat, bei der Gesellschaft, die nicht wissen will, dass er die Freiheit hatte, es zu lassen.

Buchholz und zahlreiche seiner Kollegen wehren sich sowohl gegen den Trend, zu viel zu psychiatrisieren, als auch gegen die Tendenz, zu viel zu individualisieren, und vor lauter „Einzeltätern“ die gesellschaftliche Mitverantwortung zu ignorieren. „Eine Wissenschaft, die der Öffentlichkeit mitteilt, bei schweren Straftaten handele es sich um Störungen, die man medizinisch diagnostizieren könne, macht aus ihnen ohne Ansehung der konkreten Person und ihrer Kontexte Gestörte.“

Auch in der Debatte um Neo-Nazis tauchen solche Argumente auf. Für das Erkennen der mentalen Netzwerke, der Denkstrukturen von Neonazis, müsse die Gesellschaft, um besser einschreiten zu können, sensibilisiert werden, anstatt Täter und Umfeld mit dem Gestus des „die sind eben krank im Kopf“ von sich zu schieben. Derlei Determinismen haben den Sinn, der Gesellschaft den Glauben zu erhalten, dass es eine klare Grenze, einen tiefen Graben zwischen Gestörten und Normalen gebe.

„Aber genau das ist nicht der Fall“, erläutert Buchholz. „Sigmund Freud erkannte, dass Neurose und Normalität auf einem Kontinuum liegen, in seiner Psychopathologie des Alltagslebens zeigte er, dass üblichen Fehlleistungen die gleichen seelischen Vorgänge zugrunde liegen, wie sogenannten Neurosen.“

Zu vermuten sei nun, fürchtet der Forscher, dass auch das Gutachten zu Breivik einmal mehr die Wirkung haben wird, dass „wir“ uns als „ungestört“ bestätigt sehen, dass die soziale Sphäre deterministisch reguliert ist, und Menschen nicht von ihrem Umfeld beeinflusst, sondern getrieben sind von dämonischen inneren Kräften oder entgleisten Neuronen. Auch dem Täter wird dabei übrigens sein Status als Mensch, als Subjekt genommen. Michael Buchholz bedauert: „So wird ein Weltbild des kausalen Determinismus stabilisiert, das sich wissenschaftlich gibt – aber es ist ein Weltbild ohne die Dimension der Freiheit.“

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