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Kultur: Feindberührung

In Zeiten der Gewalt: Das 57. Filmfestival Locarno erkundet das Verhältnis zwischen Privatem und Politischem

Filmfestivals sind Kriegsschauplätze. Locarno mit seinem beschaulichen Ambiente am Ufer des Lago Maggiore macht da keine Ausnahme. Da schimpft Moritz de Hadeln in einem Zeitungsinterview, die italienische Festivalchefin Irene Bignardi entfremde das Filmfest den Schweizern: ein Bewerbungsschreiben des Ex- Berlinale- und Ex-Venedigchefs? Und Bignardi, die ihren Vertrag über 2005 hinaus durchaus verlängern möchte, schießt im „Corriere del Ticino“ zurück. Währenddessen liefern sich der Schweizer Innenminister Pascal Couchepin und Außenministerin Micheline Calmy-Rey Scharmützel um die politische Indienstnahme des Festivals. Ausgerechnet in Locarno nimmt der für Kultur zuständige Couchepin auch noch die angebliche Linkslastigkeit der nationalen Filmförderung ins Visier. Und die Schweizer Kulturszene hat ihren Sommerloch-Aufreger.

Festivalfilme zeigen Kriegsschauplätze. Sie überbringen Nachrichten von besetzten Gebieten, aus unsicherer Zeit. Eine palästinensische Familie gerät zwischen die Fronten, als israelische Soldaten ihr Haus besetzen. Der Familienvater, ein Pazifist, weigert sich, es zu verlassen: Er will kein Flüchtlingsschicksal für die Seinen. Also leben die Israelis im oberen Stockwerk, während der Familienstreit der im Erdgeschoss eingesperrten Palästinenser Nacht für Nacht eskaliert. „Private“ von Saverio Costanzo: die Nahaufnahme eines mörderischen, unlösbaren Konflikts.

Der 29-jährige italienische Regisseur gewann für sein Kinodebüt den Goldenen Leoparden der am Samstag zu Ende gegangenen 57. Filmfestspiele von Locarno. Zu Recht, denn Costanzo verzichtet auf actionreiche Zuspitzung: Es gibt keine Toten. Vielmehr macht das Dokudrama mit grobkörniger Dogma-Ästhetik die Terrorisierung des Alltags geradezu physisch nachvollziehbar – die Alpträume in der Dunkelheit wie die dem Krieg abgerungene Normalität bei Tag. Man bangt, wenn der kampfeswillige Sohn eine Handgranate entschärft, die um ein Haar den Vater erwischt. Und man bangt genauso, wenn die Tochter sich ins verbotene Stockwerk schleicht, um im Schrank versteckt die Soldaten zu beobachten. Feindberührung: Die Angst herrscht diesseits wie jenseits der Schranktür.

Saverio Costanzo zeigt Haltung, in dem er sich eben nicht auf eine Seite des Krieges schlägt. Das engagierte Kino, das in Locarno mit seiner Menschenrechts-Reihe, den im Windschatten von Michael Moore segelnden neuen US-Dokumentationen und der dem Journalismus gewidmeten Retrospektive erneut eine Plattform hatte, ist nachdenklicher geworden. Es liefert Dokumente der Ratlosigkeit, der Uneindeutigkeit, des Selbstzweifels. Immer wieder: Emigrantenschicksale, Unbehaustheit, Transit. Eine Gruppe von Iranern flüchtet über die Grenze in den Bergen, zwei Fernsehreporter begleiten sie: In Hassan Yektapanahs „Story Undone“ stellt die Kamera eine Gefahr dar, taugt aber auch als Schutzinstrument vor dem Zugriff der Polizei. Die Position des Bilderjägers: prekär.

In Kenny Glenaans „Yasmin“ wird das halbwegs erträgliche Leben einer pakistanischen Immigrantentochter in einer nordenglischen Kleinstadt von den Folgen des 11.Septembers erschüttert. Man kennt das: Multikulti in Großbritannien, sozialer Realismus à la Ken Loach. Yasmin (großartig: Archie Panjabi) tauscht bei jedem Gang in die Stadt den Schador gegen knallenge Jeans. Aber Glenaan macht daraus keine Chronik einer Emanzipation. Die Schikanen gegen die Familie, die zunehmend repressive Atmosphäre entfremdet die Muslimin nicht ihrer Herkunft, sondern umgekehrt der vermeintlich toleranten westlichen Gesellschaft. Kein einfacher Anblick für uns Gutmenschen, wenn sie am Ende züchtig verhüllt in die Moschee geht. Die Solidarität des Regisseurs: fragend.

Sei es die indische Chronik „Black Friday“, die die eskalierende Gewalt zwischen Hindus und Moslems in einer verwirrenden Melange aus Bollywood-Opulenz und „JFK“-Dokufiktionalisierung nachzeichnet. Sei es der mythische Bilderbogen „Hunter“, der die Initiation eines Jungen bei kasachischen Wolfsjägern beobachtet. Sei es „Der Büffelhirte“ im überschwemmten Indochina der Vierzigerjahre: Die globalisierte Welt ist noch lange kein Dorf. Die Filme sympathisieren mit Menschen, die unsereins bei aller Lust auf Exotik eben nicht versteht. Und das gute alte Engagement weicht dem Plädoyer dafür, diese Fremdheit doch bitte auszuhalten.

Was vom Festival übrig bleibt? Ein paar Bilder, die man nicht mehr vergisst: Sex auf einem galoppierenden Pferd in den Gebirgen Kasachstans. Die Schwierigkeit, den toten Vater zu beerdigen, wenn die Regenzeit ganz Indochina in eine trübe Brühe verwandelt. Die gewaltige Schönheit der Natur. Die andere Körperlichkeit. Atemtechnik gegen die Angst, zuckende Pferdemuskeln unter glänzendem Fell, schwimmende Büffelherden, unter Wasser gefilmt.

Und die reine Kunst? Auch sie zweifelt an sich, am heftigsten in Laetitia Massons Selbstbefragung „Pourquoi (pas) le Brésil“, in der die französische Autorenfilmerin diesmal keinen gesellschaftskritischen Stoff verhandelt, sondern die eigene Arbeit als Regisseurin wie in einem Spiegelkabinett reflektiert.

Wer sich nicht auf explizit politischem Schauplatz tummelt, erzählt vom Fremdsein in der eigenen Haut, vom Alleinsein, vom Krieg in der Liebe. Aber meist ohne ästhetische Überhöhung. Gewiss ist es erfreulich, dass Ayse Polats deutsches Pubertätsdrama „En garde“, eine Berliner X-Filme-Produktion (Tsp. vom 11.8.), zweifach ausgezeichnet wurde, mit Silber sowie dem Darstellerinnenpreis für Maria Kwiatkowsky und Pinar Erincin. Mit „En garde“ trägt zum fünften Mal in Folge ein deutscher Film Leoparden nach Hause. Übrigens stammt die 34-jährige Regisseurin wie Berlinale-Gewinner Fatih Akin aus der Türkei und lebt in Hamburg: Die zweite Migranten-Generation bereichert das deutsche Kino zunehmend mit ihren Geschichten. Aber trotz der einfühlsamen Beobachtung einer Mädchenfreundschaft im katholischen Wohnheim bleibt Ayse Polats Bildsprache verhalten: „En garde“ ist ein gelungenes Fernsehspiel, großes Kino ist es nicht.

Und doch ist es ein Film, der wie viele dieses Locarno-Jahrgangs auf Belehrung zugunsten der Nähe zu den Figuren verzichtet. Götz Spielmann aus Österreich ist in seinem Sittengemälde des Kleinbürgertums „Antares“ noch näher dran – und stilistisch radikaler. Typisch Österreich: Ästhetik der Banalität, Entfremdung der Kleinfamilie, die Hässlichkeit des Sex – wie in den Filmen von Ulrich Seidl oder Michael Haneke. Aber Spielmann entwickelt bei aller Strenge der Komposition Empathie noch für die erbärmlichste Existenz. Ein neuer Blick auf das Private: Auch die Tristesse hat eine Seele.

GOLDENER LEOPARD:

„Private“ von Saverio Costanzo

SILBERNE

LEOPARDEN:

„En garde“ von Ayse Polat und „Story Undone“ von Hassan Yektapanah

JURY–SPEZIALPREIS:

„Tony Takitani“ von Jun Ichikawa, nach einer Erzählung von Haruki Murakami

BESTE DARSTELLER:

Maria Kwiatkowsky und Pinar Erincin in „En garde“, Mohammad Bakri in „Private“

PUBLIKUMSPREIS:

„Die syrische Braut“ von Eran Riklis

Der Goldene Leopard ist mit 90000 Franken (ca. 60000 Euro), Silber und Spezialpreis mit je 30000 Franken dotiert. Infos: www.pardo.ch

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