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Kultur: "femme totale": Wahre Liebe gibt es nur im Kino

Diskussionen über Sinn und Unsinn von Frauen-Film-Festivals findet Silke Johanna Räbiger nur noch langweilig. Trotzdem wird sie immer wieder mit ihnen konfrontiert - von potenziellen Sponsoren etwa oder anderen Geldgebern.

Diskussionen über Sinn und Unsinn von Frauen-Film-Festivals findet Silke Johanna Räbiger nur noch langweilig. Trotzdem wird sie immer wieder mit ihnen konfrontiert - von potenziellen Sponsoren etwa oder anderen Geldgebern. Räbiger leitet seit vielen Jahren die Dortmunder "femme totale". Und sie ist Pragmatikerin. Also wurden vor einigen Jahren die "Frauen" vor dem "Festival" einfach weggelassen. Seitdem heißt die "femme totale" im Untertitel nur noch "Internationales Filmfestival Dortmund" - und, siehe da, die Diskussionen haben ein Ende. Manchmal funktioniert die Welt eben noch ganz schlicht; und dass das Ereignis, unmittelbar aus dem Französischen übersetzt, nach wie vor die "totale Frau" zum Motto anspricht, muss das etwa, sagen wir, anglophile Sponsoren stören?

Programmatisch hat sich gar nichts geändert, sagt die Festivalchefin. Auch in Zukunft würden die Frauen im Mittelpunkt stehen. Auch in Zukunft wird es alle zwei Jahre ein neues Schwerpunktthema geben. Das ist gut so. Trotzdem hat sich auch hier der Zeitgeist eingeschlichen. In früheren Jahren wurde immerhin - mit Sujets wie den Filmfrauen in der Sowjetunion oder "Maschinenstürmerinnen" - ein sozialer, auch ein politischer Kontext direkt angesprochen; die Programmvorgaben der letzten Ausgaben dagegen waren so unverbindlich ins Offene gehalten, dass ihr spezifischer Inhalt daraus kaum mehr hervorsah. Vor zwei Jahren etwa wurde mit "As Large as Life" nichts Geringeres - aber auch nichts Allgemeineres - als das Leben selbst zum Thema gemacht. Diesmal hatte frau sich vorgenommen, unter dem Titel "kussecht" die entsprechende Schleimhautverschmelzung auf ihre kinematographischen Effekte zu untersuchen.

Ja, der Kuss: Als sichtbarer Ausdruck innigster Gefühle ist er das Kinobild schlechthin, aufgeladen mit Sitten- und Filmgeschichte. Andererseits bleibt der einzelne Kino-Kuss - deutungstheoretisch - stumm. Er hält den Betrieb der Handlung auf und erfüllt sie gleichzeitig, für die Aus-Zeit der eigenen Dauer. Das scheint alles. Wer ihn interpretieren will, ist auf kundige Unterstützung angewiesen.

Die zentrale Filmreihe des Festivals, die pro Dekade einen Film paradigmatisch ins Feld führte, brachte hier wenig Hilfe, auch wenn etwa ein Werk wie Agnès Vardas "Le bonheur" (1964) durchaus als bissiger Einspruch gegen den Liebeszauber gesehen werden kann. Auch sonst waren hier etwa mit Frances Marions "The Love Light" (1921), Mae West (für die dreißiger Jahre) und dem japanischen Liebesfilm "Hotaru" (Regie: Naomi Kawase, 2000) durchaus Kino-Glanzstücke zu finden. Als Reihe aber muss solch ein Konzept wohl misslingen, wenn es auf Kommentierung ganz verzichtet. Und auch andere Programmschienen wie "kussecht" oder "first kiss" ließen lieber die Liebe im Allgemeinen Revue passieren. Auf die aber sind wir Frauen seit Jahrhunderten zwangsabonniert. Warum das so ist, hätte man in solchem Kontext zum Thema machen müssen.

In der Vielfalt der Formen lag immer eine Stärke der "femme totale". Also: Kurzfilme und Krimis. Vor den Pornos noch ein Vortrag. Und zum Stummfilm ein Konzert. Meret Becker war für einen Kurt-Weill-Abend eingeladen. Die Popette Betancor, dortmund-gebürtig, begleitete mit Piano und Trompete "It", jenen Stummfilm, der 1927 mit It-Girl Clara Bow den Starkult initiierte. Und Ernst Schreckenberg informierte über zensorische Reaktionen, die die Leinwand-Intimitäten provozierten.

Schon der erste Filmkuss erregte öffentliches Ärgernis. Der sogenannte "Irwin-Rice-Kiss" von 1896 ist zwar schon vorbei, bevor er richtig angefangen hat, das allerdings in Nahaufnahme. Schockierend genug! In den Dreißigern schuf das Hays Office auch kussmäßig explizite Vorgaben. Erstens darf so ein Leinwandkuss keinesfalls "exzessiv" sein. Zweitens muss er als "wesentlicher Bestandteil der Handlung" motiviert sein, eine Vorgabe, die dazu beigetragen haben mag, dass Küsse bis heute im Kino symbolisch den gelungenen Liebeshandel markieren, am liebsten als Happy End. Wie sehr die solcherart in Film gegossene Liebe manchmal das Leben überlagert, demonstriert die französische Video-Dokumentation "Bisous volés" (Regie: Françoise Davisse), die eine Jugendgruppe ins Schullandheim begleitet. Zahllose Liebesbriefchen und schamhafte Küsse werden da unter den Zwölfjährigen gewechselt. Die richtige Liebe aber, sagt eines der Mädchen, findet doch nur im Kino statt. Da "passieren Geschichten, hier gar nichts". Weil den Geschichten im eigenen Leben nämlich das Ende fehle.

Aber sehen wir jetzt einmal von der Liebe ab. Die ganze Vielfalt des Küssens war in einigen französischen Pornos aus den zwanziger Jahren zu bestaunen; sie führen schon eben jenen Repetitionszwang vor, der das Genre bis heute beherrscht. Erstaunlich allerdings, wie sehr hier der Koitus zur Randerscheinung wird. Zielstrebig und routiniert treiben es Nonne mit Nonne, Priester mit Priester - und auch beim Hetero-Sex ist die genitale Variante klar unterlegen. Aber es geht ja ums Küssen. Und die Franzosen mit ihrem "baiser" können ja nicht einmal verbal zwischen Vögeln und Küssen unterscheiden.

An Amourösem haben wir uns nach vier Tagen Dortmund satt gesehen. Schöne Stunden mit großartigen Filmen haben wir auch verbracht. Das ist viel wert. Nur der frauenspezifische Blick auf den Kuss wurde, schade eigentlich, nicht so recht klar. In Zukunft sollte beides gelingen: den thematischen Bogen schärfer zu spannen und zugleich die Vielfalt nicht zu verlieren.

Erstmalig wurde dieses Jahr in Dortmund ein mit 10 000 DM dotierter Kamera-Förderpreis vergeben. Eine wichtige Initiative, weil den Handwerken, die neben Regie und Schauspiel zum Kino-Gelingen beitragen, viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Und auch, weil es gerade im technischen Bereich Frauen noch immer schwer haben: Gerade einmal zehn Prozent der "Kameramänner" in Deutschland sind weiblich. Erhalten hat den Preis die Kamerafrau Jutta Pohlmann für ihre Arbeit in Achim von Borries Roadmovie "England". Und irgendwie kam es dann, dass sich ausgerechnet dieser Stifter, ein Geschäftsmann gestandenen Alters, in seiner Laudatio die Frauen in den Festival-Namen zurückwünschte.

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