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Aus der Schweiz nach Estland gebeamt. Der Politthriller des 77-jährigen Roman Polanski gewann in sechs Kategorien. Foto: AFP

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Kultur: Ferne Nachbarn

Gala in Tallinn: Zur Verleihung des Europäischen Filmpreises an Roman Polanskis „Ghostwriter“

Man hatte es geahnt. Schon ein flüchtiger Blick auf die Nominiertenliste ließ selbst oberflächliche Beobachter des europäischen Filmwesens auf den Favoriten tippen. Welchen Titel würde die European Film Academy (EFA), die jährlich im Dezember die größeren Festivalerfolge des Jahres noch einmal abfeiert, diesmal küren? Den wunderschönen Berlinale-Gewinner „Bal“, den brisanten Venedig-Sieger „Lebanon“ oder gar den grandiosen französischen Film „Von Menschen und Göttern“, in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet? Nicht doch. Natürlich „Der Ghostwriter“.

Dass der Durchmarsch für Roman Polanskis bei der Berlinale mit dem Regiepreis ausgezeichnete Bestsellerverfilmung am Sonnabend in der Konzerthalle der estnischen Hauptstadt Tallinn aber so heftig ausfallen würde, damit hatte kaum jemand gerechnet. Nicht nur den Hauptpreis für den besten Film gab es für das solide, im Cineastengedächtnis längst weggeheftete Werk, sondern auch die Trophäen für Drehbuch und Regie, weshalb dem per Skype aus der Schweiz zugeschalteten 77-jährigen Regisseur und Mitautor zuletzt kein recht neues Dankeswort mehr einfallen wollte. Hinzu kamen die Preise für Ausstattung (Albrecht Konrad), Musik (Alexandre Desplat) und sogar für den zwar durchaus angenehm, doch eher an der Nachweisgrenze agierenden Hauptdarsteller Ewan McGregor. Seinen Glamour warf er ebenfalls per Videobotschaft ab. Anders als die vier mitnominierten Kollegen, die im Saal einer möglichen Auszeichnung entgegenfieberten, ließ McGregor sich entschuldigen: Dreharbeiten in Thailand!

Wie schon in Bochum 2009, wo drei der fünf nominierten Schauspielerinnen nicht erschienen waren, überschatteten NoShows die ansonsten mit viel Liebe vorbereitete und einiger Verve absolvierte Zeremonie. Im Fall von Polanski, seit Juli immerhin in der Schweiz wieder auf freiem Fuß, ist die Reisescheu nachvollziehbar; bei McGregor dürfte auszuschließen sein, dass er sich bei einer Oscar-Nominierung eine ähnlich saloppe Absence erlauben würde.

Tatsächlich funktioniert die EFA mit inzwischen über 2300 Mitgliedern bei ihrem Abstimmungsprozedere ähnlich wie das amerikanische Vorbild. Nur hat die Gala in den nunmehr 22 Jahren ihrer Existenz keine vergleichbare Attraktivität gewonnen.

Vielmehr scheint die Institution mehr und mehr jenen national partikularistischen Wahrnehmungs- und Marktmechanismen zum Opfer zu fallen, denen sie einst programmatisch entgegengetreten war. Außer für Hollywood interessieren sich die europäischen Kinogänger in der Regel allenfalls für die Produktion ihres Heimatlandes. Ist es bei den EFA-Mitgliedern womöglich genauso? 2010 standen 46 Filme aus 30 Ländern auf der Longlist der Academy; da wäre es doch ein Leichtes, bei sorgfältiger Sichtung der jedem Stimmberechtigten zugesandten Filme einen grenzüberschreitenden Entdeckerakzent zu setzen. Traurig genug, dass selbst dem Kinofan angesichts verödender Vertriebswege die knappe Hälfte der vorgeschlagenen Filme – vor allem aus kleineren Ländern – unbekannt sind. So tummelten sich auf der Siegerliste der Euro-Galas zuletzt überwiegend die Titel der besonders mitgliederstarken Länder Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Italien und Spanien.

„Der Ghostwriter“ bestätigt diese Malaise. Mag sein, dass viele EFA-Mitglieder, wie in Tallinn gemutmaßt wurde, einen gesamteuropäischen Künstlersolidarpakt für den in diesem Jahr schwer bedrängten Roman Polanski schnürten. Wahrscheinlicher aber ist, dass sich der von Deutschland, Frankreich und Großbritannien koproduzierte Film des polnischen Regisseurs, englischsprachig und in Amerika spielend und international mit akzeptablen Ergebnissen ausgewertet, als die simpelste Wahl anbot. Nicht Neugier ist mehr die Devise, nicht die Erschließung faszinierenden Kinos aus den cineastisch immer unbekannteren Nachbarländern, sondern die Belohnung des Gängigen.

Polanskis Film über den Memoirenschreiber eines britischen Premiers, der nicht von ungefähr an Tony Blair erinnert und sich im Zuge der Terrorabwehr nach 9/11 in einen Folterskandal verstrickt, mag – mit einiger Verspätung – politisch brisant sein. Und natürlich freut man sich in Babelsberg: Das Studio hat den unter anderem ebendort gedrehten 40-MillionenDollar-Thriller mitproduziert. Aber ein Preis etwa für das Mönchsdrama „Von Menschen und Göttern“ hätte dem zu Ende gehenden Jahr besser angestanden. Geht es darin doch um schlichte, eben mönchische Helden, die in den algerischen Bergen friedlich mit den Moslems zusammenleben und sich von fundamentalistischen Mujaheddin davon nicht abbringen lassen – auch wenn es sie das Leben kostet. Die Koexistenz von Christentum und Islam, ein aktueller Traum.

Wie schön immerhin, dass die EFA im Zweijahresrhythmus auch in die Hauptstädte kleinerer Länder reist. Tallinn war eine besonders glückliche Wahl, weil Europa dort noch als eine Art Verheißung gilt. Nächstes Jahr wird die Kapitale des kleinen Landes, deren mittelalterlich festungsummauertes Zentrum leider ähnlich wie Prag zu einem Souvenir- und Amüsierladen verkommen ist, Kulturhauptstadt Europas – und man rüstet sich dafür mit umwerfend natürlicher Herzlichkeit. Zudem wird im Januar der Euro eingeführt, was Gala-Moderatorin Anke Engelke zwar zu munteren Sottisen inspirierte – „jetzt müsst ihr die High Heels für Familie Sarkozy mitbezahlen“ –, für die Esten aber einen immensen Schritt hin zur gesamteuropäischen Normalität bedeutet.

Nur für den original estnischen GalaKandidaten, den für die beste Ausstattung nominierten „Püha Tonu Kiusamine“ (Die Versuchung des Heiligen Antonius) hat es dann doch nicht gereicht. Vielleicht ausnahmsweise nicht so schlimm: Bei der Tallinner Premiere des experimentellen Schwarzweißfilms war im Herbst 2009, zum Glück mit glimpflichem Verlauf, ein Teil der Saaldecke eingestürzt.

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