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Emmanuelle Béart in Handkes „Über die Dörfer“.

© dpa

Festival Avignon: Die ungleichen Brüter

Weltverbesserungswerke: Das Festival von Avignon eröffnet mit Peter Handkes "Über die Dörfer" und einer Adaption von Michel Houellebecqs "Elementarteilchen".

Wer im Papstpalast auftritt, muss sich berufen fühlen. Denn dieser Schauplatz ist nichts für seichte Theaterwerker, er will den emphatischen, himmelgreifenden Duktus. Die Tradition will auch, dass die Theatermacher alljährlich den politischen Kompass nacheichen und Exemplarisches zur kulturellen Lage der Nation beitragen. Stanislas Nordey jedenfalls, der in diesem Jahr zusammen mit dem Kongolesen Dieudonné Niangouna als künstlerischer Beirat das Festival prägt, wollte im Papstpalast einmal nicht die Könige, Prinzen, Ritter und Päpste auf die Bühne bringen, die traditionell das Figureninventar stellen, sondern das einfache Volk. Damit dieses dann aber auch zu 2000 Menschen etwas zu sagen hat, griff er mit Peter Handkes „Über die Dörfer“ zu einem Weltverbesserungswerk, das sowohl den politischen Überzeugungen als auch den poetischen Ansprüchen des Regisseurs gerecht wird. So finden Berufene zueinander.

Nordey kultiviert ein rhetorisches, manchmal gar mechanisch pädagogisches Theater der Überdeutlichkeit. Das Berufensein äußert sich bei ihm immer auch in einer Anrufungsdiktion, die peinlich genau darauf achtet, dass keine der kostbaren Textsilben verloren geht. Der Theaterbewahrer spielt hier den Bauarbeiter Hans, der den heimkehrenden Schriftstellerbruder Gregor in das Wunderland des Malocherlebens in der Provinz einführt. Er spricht vom Salz der Erde, wenn von den Bauarbeitern die Rede ist, die von Baustelle zu Baustelle ziehen, ihren Ärger über die Mächtigen in der Gaststätte herunterspülen - von denen doch jeder einzelne eine Welt in sich trägt, die so weit und reich ist wie die des vielgereisten Schriftstellers. Dieser, ein Alter Ego des Autors Handke, kehrt in seine Heimat zurück und ist in ihr fremder, als er in der Ferne je sein könnte. Mit Handkes proletarischem Hymnus gelingt Nordey wider alle Erwartungen und trotz der knapp vierstündigen Aufführung ein kleines Wunder: Das sperrige Stück, uraufgeführt 1982, klingt hier viel weniger pathetisch abgedreht und kunstversessen überhöht.

Das hat einfache linguistische Gründe. Das Französische sperrt sich grundsätzlich gegen mutwillige Neologismen. Handkes Sprache wirkt in der Übersetzung von Georges-Arthur Goldschmidt verschlankt; allenfalls die rhetorische Dimension bleibt ihr. Die aber passt allgemein in die französische Theatertradition wie auch speziell in den Ehrenhof des Papstpalastes.

In Handkes Stück über Familien und Wahrnehmungskonflikte von drei Geschwistern kommt keiner mit dem anderen ins Gespräch. Monologe künden von einem individuellen Erleben, von Systemen der Weltwahrnehmung, die je unvereinbar aufeinanderstoßen. Neben Nordeys kraftvollem Hans überzeugt insbesondere Emmanuelle Béart in der Rolle der Schwester Sophie. Nur der lange abschließende Monolog von Nova, der Frau aus dem Nachbardorf, geht in der Darstellung durch Jeanne Balibar völlig verloren. Handke jedenfalls, dem die Franzosen die Teilnahme am Begräbnis von Slobodan Milošević sehr übel nahmen, ist durch Nordey für den französischen Kulturbetrieb rehabilitiert.

Die erste französische Theaterversion von "Elementarteilchen" hält sich nah am Roman

Wo der eine mit großer Emphase die Menschheit retten will, indem er in offener Anlehnung an antike Vorbilder das „Gebet zu den Göttern“ und den „Himmelsschrei“ wieder einführen will, trachtet der andere danach, die Menschheit mit höhnischem Federstrich abzuschaffen. Auf Pathos folgt Zynismus; auf Peter Handke folgt Michel Houellebecq und die „Elementarteilchen“.

Der Zynismus ist zwar auch ein Standpunkt, der auf griechische Vorbilder zurückgeht, bringt dort aber eher Stoff für Komödien hervor und keine für Tragödien. Die junge Truppe „Si vous pouviez lécher mon cœur“ um den Nachwuchsregisseur Julien Gosselin referiert die Geschichte um Vereinsamung und Elend in den Jahrzehnten der sexuellen Befreiung mit erfrischender Naivität und erschütternder Unvoreingenommenheit. Mit nichts als zartem Humor bewaffnet, folgt sie dem Weltverachter in jeden Winkel seines Spotts über die Generation von 1968 und bringt mit zitternden Stimmen jeden Moment zu Gehör, in dem der höhnische Autor seine Protagonisten in Elend und Tod jagt.

Michel sucht nach dem biotechnischen Weg für die Fortpflanzung ohne Sex, Bruno sucht Sex ohne Fortpflanzung, das führt in die Irrenanstalt oder zu einer neuen Menschheit ohne erotische Plagen und Selbstverwirklichungsgedöns. Das ist wie bei Handke eine Geschichte der ungleichen (Halb)-Brüder: Handkes Hans und Houellebecqs Bruno sind verankert in der Macht der aktuellen Verhältnisse, Gregor und Michel in scheiternden Versuchen ihrer Überwindung. Handkes Gregor lässt die Heimat nicht los, Houellebecqs Michel nicht die fixe Idee eines Lebens ohne Sex.

In dieser ersten französischen Theaterversion des Romans rahmt ein U-förmiges Podest die Bühne ein; eine Leinwand hinten zeigt Videoeinspielungen, mit denen Ereignisse aus den Jahrzehnten zwischen der Mitte des vergangenen und der zweiten Hälfte des angebrochenen Jahrhunderts angedeutet werden. Alles andere sind bühnenoffene Auftritte, kabarettistisch überhöht und doch immer nah am narrativen Faden der literarischen Vorlage: eine Theaternacherzählung, flott, unterhaltend, verspielt.

Die Zeit hat Handkes Dörfer überholt: Arbeit ist nicht mehr der Ort, an dem die Tragödie der abendländischen Menschheit exemplarisch dargestellt werden kann. Versklavung droht heute eher aus der Sphäre des Konsums. Aber auch Houellebecqs kulturpessimistischer Blick auf die Freizeitgesellschaft von 1998 ist schnell gealtert. So blicken wir mal nostalgisch, mal bitter auf die letzten Jahrzehnte zurück, als das Wünschen noch geholfen hat.

Eberhard Spreng

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