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Teenager Aryan (Zsombor Jéger) kann plötzlich fliegen.

© Proton Cinema - Match Factory Productions – KNM

Film „Jupiter’s Moon“: Der Mann, der über die Grenze flog

In dem Kinodrama „Jupiter’s Moon“ des ungarischen Regisseurs Kornél Mundruczó entwickelt ein syrischer Flüchtling übernatürliche Kräfte.

Darf man das, einen Genrefilm mit Flüchtlingen drehen, womöglich sogar auf deren Kosten? „Jupiter’s Moon“, der neue Film des ungarischen Regisseurs Kornél Mundruczó erregt die Gemüter.

Nun verspricht gutes Genrekino aber nicht nur eskapistisches Vergnügen, es besitzt nicht selten auch einen veritablen Wirklichkeitsbezug. Und die kuriose Story von „Jupiter’s Moon“ vor dem Hintergrund der sogenannten Flüchtlingskrise zeigt die Absurditäten eben dieser Wirklichkeit auf – mit einem gewissen Trash-Faktor. Im Zentrum steht ein junger Flüchtling, der auf der Balkanroute aus dem Nichts heraus übernatürliche Fähigkeiten entwickelt. Tatsächlich schwebt er in Ungarn wie Iron Man durch die Lüfte, nur eben in Slowmotion. Ein syrischer Flüchtling als Superheld?

Der Reihe nach: Der Teenager Aryan (Zsombor Jéger) ist mit seinem Vater auf dem Weg nach Europa. Eines Nachts kommen die beiden in einem Schlepper-Lkw an die Grenze zwischen Serbien und Ungarn. Als sie den Grenzfluss mit Schlauchbooten überqueren, eröffnen ungarische Polizisten das Feuer auf die Migranten. Aryan verliert seinen Vater aus den Augen, er schwimmt um sein Leben.

Kinetische Kameraführung

Schon in diesem Moment lässt die Kamera den beklemmenden Realismus der ersten Minuten hinter sich und schaltet für den Rest des Films auf Immersion. Sie taucht ab mit dem Protagonisten, rast mühelos in einer Plansequenz durchs Unterholz, schwingt sich schließlich auf in die Lüfte. Am Ende der fulminanten Eröffnungssequenz schwebt Aryan, von einer Kugel getroffen, wie ein Engel in Richtung Himmel, während auf der Tonspur ein dramatisches Crescendo einsetzt.

So evoziert Regisseur Mundruczó, der mit dem Hunde-Thriller „Underdog“ international bekannt wurde, einen schon nach nur wenigen Minuten eine Menge Pathos. Doch zumindest der kinetischen Kameraführung von Marcell Rév wird sich kaum jemand entziehen können. Während des gesamten Films fliegt, klettert, fährt und kreist die Kamera mit einer handwerklichen Präzision durch den filmischen Raum, wie man sie nur selten im Kino zu sehen bekommt. Alles dreht sich: Diese Welt ist aus den Fugen geraten.

Schließlich stürzt Aryan wieder auf die Erde hinunter, und zu seiner Überraschung verheilen nicht nur die Wunden im Nu. Aus eigener Kraft heraus kann er plötzlich abheben – und fliegen. Schnell erfährt der korrupte Arzt Doktor Stern von den Fähigkeiten des Jungen und schlägt ihm einen Deal vor. Er wird ihm bei der Suche nach seinem Vater helfen, während Aryan bei abergläubischen Reichen in Budapest mit einer Flugnummer Geld eintreibt. Stern will damit seine Schulden tilgen und mit seiner Frau Vera eine belastete Vergangenheit hinter sich lassen.

Multiperspektivische Verfolgungsjagd

Derweil ist der Polizist László, gespielt von György Cserhalmi, einem Urgestein des ungarischen Films, den beiden auf der Spur, weil er Aryan für einen mutmaßlichen Terroristen hält. Ein tatsächlicher Terrorist hat dessen Ausweis gestohlen und bereitet einen Anschlag auf den Bahnhof Keleti vor. Über weite Strecken wird „Jupiter’s Moon“, der vergangenes Jahr in Cannes Premiere hatte, deshalb zur multiperspektivischen Verfolgungsjagd, bei der die Kamera auch mal minutenlang am Stoßblech eines Autos klebt.

Zwischen Neo-Noir, Action-Kino und Sozialdrama sucht Kornél Mundruczó stets den religiösen Kern der Geschichte. Der Flüchtling Aryan bleibt als Charakter eine seltsame Leerstelle und wird zu einer Art Heiland, weil er die schuldbeladenen und selbstsüchtigen Figuren des Films an ihre Menschlichkeit erinnert. Wo niemand mehr – wie es einmal heißt – an Wunder glauben kann, will der Film selber ein Wunder sein: spirituelles Überwältigungskino.
In Berlin in den Kant-Kinos und in der Passage

Jan-Philipp Kohlmann

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