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Die Filmemacherin Reem Karssli dokumentiert in „Little Syria“ die Spurensuche nach ihrer syrischen Heimat.

© Passport Productions

Filmfestival Dokumentale in Berlin: Geschichten gegen das Vergessen

Von Ex-Nazis mit Herz und Heimatverlusten. Die zweite Ausgabe des Filmfestivals Dokumentale präsentiert die eindrucksvolle Bandbreite des internationalen Dokumentarfilms.

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Trainer Eichi ist zweifellos der denkwürdigste Protagonist der zweiten Ausgabe des Dokumentarfilmfestivals Dokumentale. Ein gutmütiger Hüne mit Stiernacken, kahlrasiert, tätowiert, gepierct, immer in Trainingshosen unterwegs. Thomas Eichstädt hat wie seine Schützlinge eine weite Reise zurückgelegt, allerdings nicht geografisch, sondern mental.

Eichi trainiert in der mecklenburgischen Kleinstadt Torgelow eine Fußballmannschaft aus jungen Geflüchteten. Der FC Pio ist ein Integrationsprojekt, der Trainer arbeitet ehrenamtlich. Die Kommune weiß sein Engagement für die Jugendlichen zu schätzen, bietet ihm aber nicht mal einen Minijob an.

Vor dem Auswärtsspiel muss Eichi seine Spieler schon mal ermahnen, sich nicht von rassistischen Bemerkungen provozieren zu lassen. Denn er kennt die andere Seite: In den 1990er Jahren gehörte er der rechten Szene in den neuen Bundesländern an. „Warum habe ich das damals gemacht?“, fragt er sich heute aus dem Off. Mit seinen Nazi-Kumpels hat er vor langer Zeit gebrochen; ein Freund aus jener Zeit, der ebenfalls den Absprung geschafft hat, wundert sich in Loraine Blumenthals Dokumentarfilm „Im Osten was Neues“ über Eichis Werdegang.

Er sei eben erwachsen geworden, meint der nur. Jetzt muss er die Wahrheit nur noch seinen Jungs beibringen, zu denen er ein fast väterliches Verhältnis entwickelt hat – in dem Wissen, dass sie irgendwann vermutlich wieder in ihre Heimat abgeschoben werden.

Eine andere Facette der gewalttätigen Baseballschlägerjahre

„Im Osten was Neues“ begleitet aber nicht nur Thomas Eichstädt auf den Sportplatz, zu seiner Frau und ihren fünf gemeinsamen Kindern, bei Behördengängen. Blumenthal erzählt auch die Geschichten des jungen Tschetschenen Asad, der sich vergeblich um eine Ausbildung bemüht und ebenfalls schon Erfahrungen mit Neonazis hatte; und von Thomas, dem Star der Mannschaft, dem mit seiner Familie die Abschiebung droht. Eichi motiviert seine Jungs und ist, wenn es sein muss, auch streng.

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So entsteht ein humorvolles, nachdenkliches Alltagsporträt, das viele Vorurteile über „den Osten“ widerlegt. Sein Hauptprotagonist ist der Beweis dafür – und der Berliner Filmemacherin gelingt das ohne pädagogischen Gestus –, dass es für eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit nie zu spät ist. Asad sieht seinen Trainer nach dessen Geständnis mit anderen Augen, weiß aber auch, dass Eichi heute anders ist als die Neonazis aus dem Ort, die ihn abstechen wollen, wie er einmal erzählt. „Im Osten was Neues“ erzählt eine andere Facette der Baseballschlägerjahre, die heute, der Einfachheit halber, als Erklärung für das Erstarken der Rechten in Ostdeutschland herangezogen werden.

„Im Osten was Neues“ ist nicht der einzige Film mit Berlin-Bezug auf der Dokumentale, die bis bis zum 22. Juni an 18 Spielorten in der gesamten Stadt stattfindet. Und die Programmauswahl unterstreicht im zweiten Jahr erneut, dass die Stadt ein eigens dem internationalen Dokumentarfilm gewidmeten Festival gebraucht hat.

Vergessen ist die kontroverse Gründungsgeschichte, die gezeigt hat, dass auch in der Berliner Kulturszene mit harten Bandagen um Fördergelder gekämpft wird und Solidarität untereinander nicht immer höchste Priorität genießt. Ein Gewinn ist das Festival dennoch. Die zweite Ausgabe führt die ganze Bandbreite des Dokumentarfilms vor, der bei der letzten Filmförderreform zu kurz gekommen ist und auch in den öffentlich-rechtlichen Redaktionen zunehmend stiefmütterlich behandelt wird.

Trauma des Krieges und Verlust der syrischen Heimat

In „Little Syria“ begibt sich die Filmemacherin Reem Karssli auf eine Spurensuche. Zusammen mit ihrem Bruder Mohammed und ihrem Freund Yasser ist sie Mitte der 2010er Jahre auf der Flucht aus Syrien in Berlin gelandet, aber das Trauma des Krieges und der Verlust der Heimat erschweren die Ankunft. Mit der Hilfe ihrer Ko-Regisseurin Madalina Rosca und anderen Geflüchteten will sie die Puzzleteile ihres früheren Lebens wieder zusammensetzen.

Die Musikbiografie „Any Other Way“ erinnert an Jackie Shane, die erste trans Soulsängerin, die erst kurz vor ihrem Tod 2019 wiederentdeckt wurde.

© NFB & Banger Films

In Berlin spricht sie mit Tobias Schneider, der die Kriegsverbrechen des syrischen Regimes dokumentiert, vor allem die Gasangriffe auf die eigene Bevölkerung. Und in Barcelona trifft sie ihren früheren Kunstlehrer Naja wieder, der seine Erinnerungen an die syrischen Foltergefängnisse in Zeichnungen über jene Zeit verarbeitet. „Er kam zurück von den Toten“, sagt Karssli.

Als 2022 Tausende von Ukrainierinnen und Ukrainern am Berliner Hauptbahnhof ankommen, die ebenfalls vor russischen Bomben geflohen sind, findet sie sich plötzlich auf der anderen Seite wieder. Zwei Jahre später fällt das Regime von Baschar al-Assad und in den Straßen von Berlin versammelt sich, wie zwölf Jahre zuvor in Damaskus, eine Schicksalsgemeinschaft, die sich in ihrer unerschütterlichen Hoffnung bestätigt sieht. Trotzdem sagt Karssli in einer der letzten Einstellungen, dass diese Geschichte kein Happy-end habe. Genau so muss man auch „Little Syria“ verstehen: als ein weiteres Kapitel, eine Mahnung der Geschichte.

Die über 50 Filme im Programm der zweiten Dokumentale decken ein breites thematisches Spektrum ab, von dem politischen Porträt „Facing War“ über den ehemaligen NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der den Ukrainekrieg zu moderieren versuchte, bis zu der bewegenden Musikdoku „Any Other Way“ über die trans Soulsängerin Jackie Shane, die sich in den 1960er Jahren weigerte, gegenüber der heteronormativen und rassistischen Musikindustrie Kompromisse einzugehen und erst kurz vor ihrem Tod 2019 wiederentdeckt wurde. Sie belegen die Stärke des Dokumentarfilms, der sich in seinen besten Momenten gegen das Vergessen stemmt.

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