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Kultur: Fisch sucht Schicksal

Seemannsgarn und Mineralwasser: Sebastian Baumgarten filetiert Brittens „Peter Grimes“ an der Dresdner Semperoper

Man kann Sebastian Baumgarten nicht vorwerfen, dass er sich seine Sache einfach macht. Von der Kritik gepriesen, von den Theatern umschwärmt, könnte der Regiestar aus dem Prenzlauer Berg Oper am laufenden Meter machen, an ersten Häusern, mit besten Sängern und komfortablen Ausstattungsetats. Wenn er nur wollte. Doch den 37-Jährigen treiben hartnäckige Skrupel um: Immer wieder zieht es ihn hin zu freieren, experimentelleren Theaterformen, dann aber doch hin und wieder zurück zur Oper, um die Anwendbarkeit der neu gefundenen Wahrheiten auf die alten Stoffe auszutesten.

Kein Wunder, dass das Ergebnis jedes Mal weniger mit dem zu tun hat, was der Besucher nach der Lektüre des Opernführers zu sehen erwartet – das Erzählen von Geschichten, die irgendwann einmal passiert sein könnten, ist für Sebastian Baumgarten längst passé. Zum fortschreitenden Dekonstruktionsprozess summieren sich so die wenigen Baumgarten-Opernarbeiten der letzten Jahre. Die wachsende Skepsis gegenüber den traditionellen Erzählformen des Theaters hat sich in die Geschichten gefressen wie Rost in eine alte Eisenplatte.

Zuletzt, bei seiner Version von Händels „Orest“ an der Komischen Oper (Wiederaufnahme am 3. März), war nur noch ein aller barocker Draperie entkleidetes Aktionsskelett übrig geblieben. Die Handvoll Akteure in Nicht-Kostüm-sein-wollenden-Trendklamotten, die sich auf nackter, nicht-Kulisse-sein-wollender Bühne zum Theaterspiel versammelt, stellt das zwangsläufig Konstruierte der Handlung bloß und die eigenen Rollen in Frage.

Auch Benjamin Brittens „Peter Grimes“, dem sich Baumgarten nun nach einjähriger Opernpause an der Dresdner Semperoper stellt, ist ein Produkt dieser Zerfallsreihe. Kompromisslos schält Baumgarten das Fischerdrama aus allen atmosphärischen Bezüglichkeiten heraus und ersetzt die von Britten präzis ausgepinselten dörflichen Gemeinschaftsrituale durch Videoprojektionen – wenn die Glocken zum Sonntagsgottesdienst läuten, bekommt das Publikum der Semperoper rot eingefärbte Filmchen katholischer Bußprozessionen zu sehen, wenn die Meute zur Jagd auf den Außenseiter Grimes bläst, zeigt ein Stierkampf-Video, was die Stunde geschlagen hat.

Authentisches Material muss dort her, wo der Glauben an das gespielte verloren gegangen ist. Das ist in jedem Fall ein Theater, das seine Relevanz ganz aus dem hier und heute zieht: Brittens Dörfler sind zur Verschiebemasse von Ein-Euro-Jobbern geworden – das ausgezirkelte Beziehungsgefüge von anno dazumal, stellt Baumgarten klar, ist längst der wurzellosen Anonymität schrubbender Basecapträger gewichen, der Hass auf den Außenseiter Grimes zeigt diesen tristen Existenzen erst, dass sie selbst noch eine Spur Leben in sich haben. Alle zappeln sie im gleichen Netz – Fische auf dem Trockenen, die nach Wasser dürsten. Das in Montagu Slaters Libretto bildreich beschworene Lebenselixier wird in Dresden zur Zentralmetapher für die Gesellschaft – ganze Paletten mit Mineralwasserflaschen hat Bühnenbildner Hartmut Meyer zum Sinnbild für den Verlust des ursprünglichen Lebens getürmt.

Um das, was von der Geschichte übrig geblieben ist, zu erzählen, braucht es Seemannsgarn: Ein Mensch versucht aus diesem Kreislauf von Lieblosigkeit und Unterordnung auszubrechen, wird jedoch geächtet, weil seine Versuche, die seelischen Deformationen zu überwinden, immer wieder in Gewalt münden – dieser Peter Grimes ist ein naher Geistesverwandter von Bergs „Wozzeck“, den Baumgarten an der Semperoper zuletzt ebenfalls als urtümlichen Rebellen gegen die Gleichschaltung der Konsumentenhirne porträtierte.

So weit, so konsequent. Und dennoch lässt dieses Schicksal, dass doch durch die Loslösung von allen Haifischbar-Klischees näher an uns heranrücken sollte, seltsam kalt. Die auf die Bühne gestellte und mit projizierten Texten untermauerte Gesellschaftsanalyse berührt weniger, als dies ein kreuzbraver „Grimes“ in einem x-beliebigen Stadttheater täte. Baumgartens Schuld ist das nur mittelbar: Die Brücke vom Kopf zu mitleidenden Herzen zu schlagen, das wäre wohl hauptsächlich Sache der Musik gewesen – so wie es beim weißglühenden „Wozzeck“ vor zwei Jahren noch funktioniert hat.

Doch Ivor Bolton, hauptsächlich durch seine Münchner Barockoperndirigate bekannt, ist mit der Koordination der komplexen Ensembles heillos überfordert. So wacklig in der Abstimmung von Bühne und Orchestergraben, so farblos und stimmungsarm ist Brittens Oper wohl kaum irgendwo zu hören. Chorstimmen kippen oft mittendrin weg, die Sänger starren auf den Dirigenten wie Kaninchen auf eine Schlange, und die Dresdner Staatskapelle, die eigentlich genau die richtigen Herztöne von Leid und Hoffnung in petto hat, klingt so verzagt und ausgedünnt, als säße eine zusammengewürfelte Gruppe von Substituten im Graben.

Die Sänger haben es unter solchen Bedingungen nicht eben leicht, und doch ist fraglich, ob sie auch unter besseren Bedingungen der Verantwortung gewachsen wären, die ihnen Baumgarten durch den Verzicht auf jegliche atmosphärische Einbettung aufbürdet. Stephen Goulds Grimes beispielsweise klingt recht gesund, als Charakter bleibt er jedoch ein unbeschriebenes Blatt, Jan Henrik Rootering als väterlicher Freund Balstrode ist, körperlich durch seinen beträchtlichen Leibesumfang gehemmt, kaum mehr als ein Stichwortgeber. Allein Soile Isokoski, die finnische Wundersopranistin, kann Peters Freundin Ellen eine leidensfähige Seele einhauchen. Fast erscheint diese kleine Person mit Ulrike-Meinhof-Perücke als das eigentliche Opfer des Stücks. Für Momente wird spürbar, was aus diesem Abend auch hätte werden können.

Jörg Königsdorf

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