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Kultur: Flatterndes Federvieh

Nun sag, wie hast du’s mit der Tradition? Zum Abschluss des Berliner Jazzfests

Von Gregor Dotzauer

Das Original, so hat die Schriftstellerin Angela Krauß einmal treffend formuliert, ist ein Werk; die Quelle aber ist eine Kraft. Was sich in diesem Spannungsfeld an Traditionsbewusstsein ausbildet, spielt auch für den Jazz eine Rolle. Zwar lebt er durch seinen hohen improvisatorischen Gehalt weniger von genau umrissenen Werken als andere musikalische Genres. Aber auch hier gibt es massenhaft Epigonen, historisierende Klone und Totgeburten – und eine Sehnsucht nach dem Original oder zumindest nach Originalen. Wie in allen Künsten schiebt und zerrt man die alten Helden auf die Bühne, und wer noch keine Legende ist, wird qua Lebensalter dazu gemacht.

Daraus können sich anrührende Momente ergeben, die sich von Mitleidsanwandlungen aber nicht immer unterscheiden lassen. Monumente wie der greise Pianist Hank Jones, der beim Berliner Jazzfest im vergangenen Jahr den „Blue Note“-Schwerpunkt vertrat (und sechs Monate später starb) sind dann auch nicht viel mehr als Monumente: ziemlich unbeweglich und nur noch Stellvertreter ihrer selbst – Mythen, die die nachfolgenden Generationen inspirieren sollen, die unter dem gleichen Label antritt.

Dieses Jahr zeigte sich Nils Landgren, der künstlerische Leiter des Jazzfests, offensiver neugierig und präsentierte in einem Schwerpunkt Europa viele außerhalb der Szene wenig eingeführte Namen, die dann doch wieder explizit auf Traditionelles Bezug nahmen. Zum Beispiel das Orchestre National du Jazz unter der Leitung von Daniel Yvinec mit dem Programm „Broadway In Satin“. Die zehnköpfige Band unterzog zusammen mit der Bluesröhre Ian Siegel und der spröden Sangeskraft von Karen Lano die melancholischen Melodien von Billie Holiday einer Revision - mit Verfahren, die typisch sind für solche zeitgenössischen Hommage-Projekte. Einerseits bleibt die Wiedererkennbarkeit der Stücke jederzeit garantiert, andererseits werden sie mit Gegenstimmen und Gegenrhythmen vom Jazzrock bis zur Kakophonie übermalt, als müsste jedes Original verzweifelt um Originalität kämpfen. Auf den Geist dieser Stücke kommt es bei diesem eleganten Muskelspiel, das Schlagzeuger Yoann Serra vorantreibt, nicht so sehr an.

Völlig anders das Vokalquartett Moss mit dem Deutschamerikaner Theo Bleckmann, Peter Eldridge, Kate McGarry, Lauren Kinhan und einer dreiköpfigen Rhythmussektion mit Drummer John Hollenbeck. Das Material stammt von Neil Young („Old Man“), Joni Mitchell („Shadows And Light“) oder Tom Waits (Take It With Me“). Doch diese Lieder wollen als Lieder weiterleben, mitsamt ihren Texten und ihrer vertrauten Bedeutung. Sie wollen nicht einmal so recht die harmonischen Gefilde des Jazz betreten, sondern fühlen sich wohl in ihrer countryhaften Seligkeit, mit der sie, total laid back, davonsegeln.

Ekstase pur dann bei Joachim Kühn, der sich vor zwei Jahren in die nordafrikanische Wüste begab, um dort Kraft zu schöpfen, und nun – „Out of the Desert“– mit dem Marokkaner Majid Bekkas, der die bassähnliche, dreisaitige Guembri spielt, dem Perkussionisten Ramon Lopez und der HR-Bigband unter Ed Partyka zurückgekehrt ist. Orientalische Themen und Gesänge zerstieben in Free-Jazz-Wirbeln und finden zurück ins gesammelte Blech der Band, während Lopez, äußerlich HB-Männchen von Kopf bis Fuß, als unfassbar gut gelaunter Wirbelwind durch die Arrangements fegt und raschelt und klöppelt. Mit den Fingern der rechten Hand jagt er über eine indische Tabla, mit der Linken, einen Drumstick zwischen den Zähnen, holt er aus dem Cajón, der Sperrholzkiste mit Snare-Teppich, die ihm als Hocker dient, wuchtige Bassbeats heraus und gibt zugleich mit dem rechten Fuß der Bassdrum Zunder. Diese Band zieht ihre Kraft aus den Überraschungsmomenten ihrer stilistischen Kontraste.

Der klischeefreieste und bei weitem intelligenteste Auftritt gelang indes dem britischen Pianisten Django Bates und seinen dänischen Freunden Petter Eldh am Bass und Peter Bruun am Schlagzeug mit einer aberwitzigen Verneigung, nein einer Pirouette mit Doppelsalto vor Charlie „Bird“ Parker. Das „Beloved Bird“-Projekt versucht zu imaginieren, wie der Altsaxophonist heute wohl vielleicht spielen würde. Bates erinnert sich noch gut, wie er als Zwölfjähriger Parkers rasende Bebop-Girlanden aus einer auf 16 Umdrehungen pro Minute herunter gedrehten 78er-Kollektion herauszuhören versuchte und trotzdem ständig die Nadel aus der Rille reißen musste. So klingt es auch heute noch ein wenig.

Ein unaufhörliches Beschleunigen und Verlangsamen der Motivströme findet hier statt. Selbst wo Parkers bekannteste Themen aufblitzen, ist nichts auf Wiedererkennbarkeit angelegt. Zwischen plötzlichen Taktwechseln meint man, mit diesem Bird ein in der totalen Improvisation zerrupftes Federvieh vor sich zu haben und hat doch mit einer in kleinste Einheiten zerlegten Musik zu tun, in der impressionistischer Morgentau und und expressionistische Clusterschwärze friedlich miteinander leben. Django Bates stellt „Games with Charlie Parker“ an, um an den Punkt zurückzukehren, an dem auch dessen Musik ihren Ausgang nahm. Mit diesem Trio hat er ihn gefunden.

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