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Generalmusikdirektor Daniel Barenboim und Intendant Jürgen Flimm, fotografiert 2014

© Hauke-Christian Dittrich/dpa

Flimm verteidigt Barenboim: Es gab kein „Klima der Angst“

Empathie, Beistand, unvermeidbar auch Streit: Mit Daniel Barenboim als Chef hat die Staatsoper Sternstunden erlebt, schreibt sein Mitstreiter. Ein Gastbeitrag.

Als am Freitagabend im Boulez Saal die letzten Himmelsklänge von Boulez verklungen waren und sich das Publikum zu einer standing ovation erhob, eilte ein erschöpfter Barenboim von Musiker zu Musiker und bedankte sich mit einer herzlichen Umarmung. Es war ein Konzert zu Ehren des ehrwürdigen Weltarchitekten Frank Gehry, der seinen 90. Geburtstag feierte, eben in seinem Boulez Saal, einem Juwel der Berliner Konzertwelt. Welche Reverenz!

Ich habe an die zehn Jahre mit Daniel Barenboim an der Staatsoper arbeiten können und reibe mir ständig die Augen, was ich über diesen Künstler, der alles für die Stadt und die Kultur Berlins getan hat und noch mehr, lesen muss. Lese ich richtig?
Sternstunden haben wir erlebt, mit Daniel Barenboim und seiner unvergleichlichen Staatskapelle, die er zu einem der besten Orchester der Welt entwickelt hat, und mit seinem Flügel, dem er nun schon von Kindesbeinen an zu unserem Entzücken die schönsten Töne zu entlocken vermag, denen man zu unserer großen Freude lauschen kann.

Zehn Jahre und mehr arbeiteten wir also schon in einem „Klima der Angst“. Wie soll das gehen, bitteschön? Monster auf den Fluren? Arme bleichgesichtige, magere Mitarbeiter drücken sich verzweifelt in Ecken und Nischen, wenn die Imperatoren mit ihren Prätorianern über die Bühnen stiefeln?

Leistungen wie diese entstehen nicht unter Druck und Zwang

Wir haben schwierige Zeiten hinter uns und dennoch im Schillertheater mehr als 100 (in Worten einhundert!) Produktionen der größeren und kleineren Art veranstaltet – und mit Erfolg! Glaubt irgendjemand, der je seine Nase in ein Theater, welcher Provenienz auch immer, gesteckt hat, solche Leistungen könnten unter Druck und Zwang entstehen? Vierzig Jahre habe ich als Theaterdirektor hinter mir, aber weder in Köln, noch in Hamburg, noch bei der Triennale, noch bei den gewiss nicht einfachen Salzburger Festspielen gab es je ein „Klima der Angst“. So auch nicht in der Staatsoper, weder in der Bismarckstraße noch Unter den Linden!

Ich kenne die Staatsoper so gut wie wenige. Hätte ich als Chef je ein solches Klima gespürt, ich hätte Tür und Fenster aufgesperrt und frische Luft einströmen lassen! Müssen! Ich gäbe was darum, wenn ich noch einmal Jahre mit Daniel hätte. Ich machte mich gleich morgen an die Arbeit. Er ist ein kluger, schlagfertiger und besonders witziger Mensch. Über seine musikalische Bildung und künstlerische Fertigkeiten, seine unbequemen politischen Ansichten gibt es wirklich nichts zu streiten. Seine Heimat, Erez Israel, ist über sein Engagement für den Frieden im Nahen Osten, über sein Engagement für das Diwan-Orchester alles andere als erfreut. Und zu alledem kommt seine tiefe Begabung für Empathie.

Nach meinem Schlaganfall besuchte mich Daniel alle Tage

Als unser hochverdienter Konzertmeister Batzdorf in den Ruhestand ging, bereitete Daniel ihm einen einzigartigen Abschied. Vor tausenden Zuschauern in der Royal Albert Hall hielt er ihm eine Dankesrede (standing ovations). Als Axel Wilczok, auch einer unserer Konzertmeister, schwer an Krebs erkrankte, hielt Barenboim immer zu ihm und bestand weiter auf seiner Mitwirkung. Barenboim war nahe bei Axel bis zu dessen schmerzhaftem Tod.

Als Moidele Bickel darniederlag, erzählte ich ihm davon, wir fuhren gleich ins Krankenhaus und erzählten von früher. Er kannte diese unvergleichliche Kostümbildnerin aus der gemeinsamen großartigen Arbeit am „Wozzeck“ in Paris mit Patrice Chéreau. Er war noch einige Male bei ihr und sie war immer gleich fröhlich und glücklich.

Vor geraumer Zeit hatte ich einen bösen Schlaganfall. Ich wusste nicht, wie mir geschah und was wohl würde. Daniel besuchte mich alle Tage, sprach mir Mut zu und redete über so viel Zukünftiges. Ich weiß heute, dass ich mich ohne seinen ständigen Zuspruch niemals so gut und schnell erholt hätte. Als unser Freund und Dramaturg Jens Schroth starb, ließ er uns ziemlich verstört zurück. Auf einer kleinen Feierstunde ihm zu Ehren setzte sich Daniel Barenboim an seinen Flügel und spielte für Jens und für uns, wie tröstend war das!

„Klima der Angst“, so schreiben die Gazetten. Wissen die Neunmalklugen nicht, dass sie dadurch alle lieben und fleißigen Mitarbeiter beleidigend der bleichen Untätigkeit zeihen?

In China lud Barenboim das ganze Orchester ein

Viele Pressekollegen waren auf vielen Reisen der Kapelle mit Daniel um die Welt unsere Gäste. Keiner, der hautnah dabei war in der Carnegie Hall oder gar kürzlich in Japan oder China hat ein „Klima der Angst“ bemerkt. Hallo? Hat niemand mitbekommen, dass der Generalmusikdirektor zuletzt auch beim Gastspiel in China – wie üblich – das gesamte Orchester zu einem opulenten Essen eingeladen hat?

Die Wege der Kunst sind vielfältig und verschlungen und schwierig. Das Ziel liegt zumeist in weiter Ferne. Auf diesem Pfad bleibt wohl mancher außer Atem am Rande stehen, erstaunt, dass die Reise weitergeht, ohne ihn. Denn natürlich gibt es in künstlerischen Prozessen Friktionen, davor ist niemand gefeit, vor heftigen Auseinandersetzungen und großem Streit. Wegen was wohl? Wir wissen alle, die in diesen Institutionen arbeiten, dass es so etwas Unscharfes wie Geschmack und Moden unberechenbare Erscheinungen sind. Deshalb freilich sind wir dort und in keiner Fabrik.

Selbst der edle Nikolaus Harnoncourt konnte vom heftigen Zorn geschüttelt, aus seiner Haut fahren: „Bitte, rief er dann laut, hörts mir doch zu!“ Und schüttelte seine gefalteten Hände hoch in der Luft. Als einmal ein Kontrabassist eine Mozartsche Pianostelle partout zu laut spielte, bot der dem Maestro ziemlich pampig und sehr forte an, er könne ja von zu Hause aus spielen, das wäre dann wohl die richtige Lautstärke. Harnoncourt nahm nicht übel und: begann die Stelle sogleich wieder von vorne.

Und die Nachfolge. Die sollten wir dem famosen Orchester, dem Senator und Daniel Barenboim überlassen. Die werden das schon machen. Aber noch dirigiert und spielt er für uns, und wir sind glücklich!

Jürgen Flimm, Jahrgang 1941, war von 2010 bis 2018 Intendant der Staatsoper Unter den Linden.

Jürgen Flimm

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