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Kultur: Forever Young

Wie die Rockmusik klassisch wird und sich vor ihrem eigenen Werk verneigt / Von Diedrich Diederichsen

Neil Young hat nun endlich mit einem lange angekündigten Unternehmen begonnen: Er durchforstet sein riesiges, wohl gepflegtes Archiv und versorgt sein Publikum mit historischen Aufnahmen. Den Anfang macht ein Live-Mitschnitt aus dem New Yorker Fillmore East von 1970. Zur Vorstellung von „Everybody Knows This Is Nowhere“, Youngs zweitem Album, spielen Crazy Horse in Originalbesetzung mit dem bald darauf verstorbenen Danny Whitten, dazu der Surf-Mozart, StonesBegleiter und Produzentendandy Jack Nitzsche als Gast an den Keyboards – nicht nur für all diejenigen, die sich lieber das 37. Neil-Young-Album als irgendein neues Produkt ins Regal stellen, ein Angebot von historischer Gravität.

Meanwhile in Manhattan: Lou Reed führt sein 35 Jahre altes Album „Berlin“ auf. Es ist nicht das erste Mal, dass Reed sich mit einem Bezug auf die eigene Person und die eigene Karriere ins Gespräch bringt. Mit „The Blue Mask“ verwarf er 1982 seine Images der Siebziger als unauthentisch. In „New York“ distanzierte er sich von der Welt der Drogen und der roten Lichter, denen er zuvor 78 Prozent seiner Inspiration verdankt hatte. In den mittleren Neunzigern wiederum nahm er begeistert an der vom Berliner Zeitkratzer-Ensemble initiierten konzertanten Aufführung seines Speed-Feedback-Meisterwerks „Metal Machine Music“ teil – auch wenn er sich an die in seinen Liner Notes von 1975 ausgebreiteten Drogenbezüge nicht erinnern wollte. Heute tritt er viel mit dem Sänger Antony auf, der gerne auf Reeds sexuell ambivalente Glamourphase zurückgreift und damit sehr erfolgreich ist. Nahe liegend, dass auch Reed die Werke aus der vermeintlichen Masken-Periode rehabilitiert und das von ihm selbst einst so geschmähte „Berlin“ wieder aufführt.

Auch der dritte Meister der Langlebigkeit, Bob Dylan, steuert seinen Kurs dialektisch an Repertoirepflege und Erwartungsenttäuschung entlang. Seit der never ending tour ist potenziell jeder alte Song im Repertoire, jede Dylan-Erinnerung kann sich jederzeit Hoffnung auf ihre Aktualisierung im Konzert machen, aber keiner der Songs bleibt ungeschoren. Bis auf den Text bleibt nicht viel von ihnen übrig: Das frisch ausgelöste Madeleine-Erlebnis eines wieder gewonnenen Moments wird, noch während derselbe anhält, gleich wieder ruiniert und gnadenlos ins Licht der Gegenwart gehalten. Diesem Spiel mit dem alternden Publikum bei seinen Live-Auftritten stehen bei Dylan einerseits in nicht übertrieben kurzen Zyklen veröffentlichte Alben gegenüber, auf denen er sich mit dem eigenen Ergrauen beschäftigt, andererseits eine Radio-Show, die ihn als faktenverliebten Kenner früher amerikanischer Pop-Musik ausweist.

Young, Reed, Dylan: Allen drei ist gemeinsam, dass sie Pop-Musiker mit einem Werk sind. Und das ist ein fast paradoxer Erfolg. Denn des Pop-Musikers Job ist es ja, gerade kein überlebensfähig universales Werk in die Welt zu setzen, dauerhafter als Erz, sondern im Gegenteil möglichst nur einen historischen Moment den Beteiligten oder seinen Zeugen möglichst plausibel erleben zu lassen. Danach treten auch die Treffsichersten von der großen Bühne ab, gehen in die Werbung, schreiben Romane, werden drogenabhängig, laufen zu den Kunstmusiken über und vieles mehr. Aber nie, oder fast nie, produzieren sie stetig weiter Momentaufnahmen. Oder doch? Und wie wird aus einer Reihe von Momentaufnahmen so etwas wie ein Werk?

Über wenige Popmusiker würde man sagen, dass sie ein Werk haben. Werk meint hier nicht eine über die Zeit unordentlich verteilte Menge von Veröffentlichungen, sondern eine sich kontinuierlich über die Lebenszeit ausbreitende und entwickelte Produktion. Vielleicht stellt sich ja heraus, dass ein Werk in diesem Sinne zu haben überhaupt keine Qualität von Popmusikern ist – und dass die beste Popmusik nun mal genau die ist, die in keine Werks- oder andere plumpe Kategorie des 19. Jahrhunderts und seiner Institutionen gehört. Vielleicht. Jedenfalls gibt es ohnehin nicht viele, für die anderes gelten könnte.

Für die allermeisten gilt, dass ein einziges – meist – frühes Album oder auch nur ein Song oder Track für den Rest ihres Lebens uneinholbar geblieben sind. Dann gibt es diejenigen, die über eine Periode von drei, vier Jahren einen seitdem oft kopierten Stil entwickelten, aber anschließend von der Bildfläche verschwanden, irgendwelche öden Re-Unions nicht mitgerechnet. Weder die zahlreichen Comebacks der Byrds noch die der Gang Of Four haben irgendeine Bedeutung im Verhältnis zu den großen, genrebildenden Entwürfen beider Bands in ihren entscheidenden fünf Jahren. Dann gibt es Fälle wie Scott Walker, Van Dyke Parks oder Tom Verlaine, die nach großen Pausen immer wieder zurückkehren, aber dazwischen schweigen oder abschweifen. Schließlich wäre da noch eine ganze Reihe von Figuren wie Brian Eno, John Zorn, Mayo Thompson und John Cale, die zwar auf ein kontinuierlich in der Zeit expandierendes Projekt verweisen können, sich aber gerade dadurch auszeichnen, dass sie dabei immer wieder in andere künstlerische Ordnungen überwechselten (Bildende Kunst, Neue Musik, Produzententätigkeit). Auch ihr Selbstverständnis nähert sich immer mehr dem des Künstlers im klassischen Sinne.

Der Popmusiker ist aber weder nur ein Komponist, Regisseur oder Produzent, der ein Werk entwirft, ohne es auszuleben, noch ist er ganz der Star, der nur für seine Öffentlichkeit lebt wie ein Schauspieler oder Popstars alter Schule wie Frank Sinatra oder Robbie Williams. Die kontrollieren kaum ihr musikalisches Material. Der einschlägige Popmusiker muss vor allem einen Zusammenhang zwischen seiner Tätigkeit als Regisseur seiner Auftritte, seiner Persona, seiner Musik und den Auftritten selbst, der Repräsentation all dieser Einfälle herstellen. Denn das wollen die Leute von ihm. Wie er damit im Lauf der Zeit umgeht, das ist die Frage.

Plausibel soll nach dem klassischen Modell nicht nur der Song sein, sondern auch ein bestimmtes biografisches Verhältnis zu ihm. Dieses Verhältnis kann in der gern fetischisierten Authentizität liegen oder auch in einer wohl eingespielten Nichtübereinstimmung – die dann ihrerseits wieder zu einem authentischen Markenzeichen wird wie bei David Bowie und Frank Zappa. In jedem Fall ist die Arbeit an der Biografie nicht unwichtig. Noch wichtiger aber ist es, einen Darstellungsmodus zu finden, der weder in die Falle einer schwachsinnigen Identität mit der offiziellen Biografie tapst, wie das so viele heutige Stars tun, noch sich in der auf die Dauer ebenso öden Sicherheit eines „Spiels mit Identitäten“ gemütlich einrichtet – wie etwa die späte Madonna.

Dabei haben sich die Bedingungen geändert. In den so genannten hohen Künsten nimmt man schon länger kritisch oder dekonstruktiv Abschied vom allein verantwortlichen Künstlersubjekt. Den Werkbegriff in seiner alten Form verteidigen nur noch ein Häuflein Kunsthistoriker. Bildende Künstler wie Michael Krebber und Schriftsteller wie Enrique Vila-Matas verteidigen – analog zum Objekt ohne hervorbringenden Künstler – den Künstler ohne Werk. Oder den mit nur einem einzigen, unvollendeten Werk, wie Vila-Matas eindrucksvoll in seiner als Roman getarnten literaturgeschichtlichen Hommage an die One-Hit-Wonder der Literatur, „Bartleby & Co“, vorführt. Viele solche einmal im Leben von einer großen Idee berührten Figuren machen die Geschichte der Literatur aus, nicht die öden Dauerbrenner, die Bücherschränke und Spielpläne immer noch zu Unrecht füllen.

Es ist fraglos sympathisch, für vergessene Helden historischer Sekunden Gerechtigkeit einzufordern und das verantwortungslose und hingebungsvoll selbstverschwenderische literarische Medium dieser Sekunde gegen das dumpfe Ideal der Beständigkeit zu verteidigen. Dennoch mutet die Begeisterung, mit der Vila-Matas diese Pop-Helden der Literatur heuert und feuert, heute etwas neoliberal an. Gegen das Elend der Beständigkeit hilft nicht einfach undialektisch eine fröhliche Unbeständigkeit.

Seit der großen Wiederveröffentlichungswelle des beginnenden CD-Zeitalters erleben Popmusiker, dass der spezielle Moment, an dem sie beteiligt waren, ein zweites Leben unter veränderten Bedingungen führt. Sind sie in der Lage, mit dieser zweiten Bedeutung, die weniger mit Aktualität als mit Erinnerung und wiederzufindenden Zeiten zu tun hat, künstlerisch etwas zu schaffen? Falls ja, gibt es einen Ausweg aus der schlechten Alternative zwischen seit 30 Jahren vor sich hin sterbenden RockDinosaurieren à la Stones und tragisch früh verstorbenen Helden goldener Momente.

Es gibt viele Wege, diesen zweiten Moment in der eigenen Biografie in Kommentaren, Wiederaufnahmen oder historisch-kritischen Editionen zu gestalten. Die Beach Boys, die schon in den späten Achtzigern auf gut fünfzehn Jahre Niedergang zurückschauen konnten, boten als Erste vorbildliche CD-Editionen ihres Frühwerks, die seitdem von Box-Sets aller Art kopiert wurden. Brian Wilson erfand die konzertante Wiederaufführung seiner eigenen Meisterwerke, die bis dato für Ergebnisse glücklicher Stunden und Zufälle in den Studios der Sechziger gehalten wurden. Man kann sich auf der Bühne und philologisch zu seinen alten Werken verhalten, man kann aber auch in der Gegenwart diese zweite (und dann dritte etc.) Rezeption mit einbeziehen.

Im HipHop wurden 20 Jahre alte Momente (Jazz, Funk und Soul) und ihre seltsame Beziehung zur Gegenwart in einer neuen Gegenwart produktiv gemacht. Sie wurden erkennbar gesampelt und an das kulturpolitische Anliegen angeschlossen, eine Traditionslinie afroamerikanischer Musik vom Funk der Black-Panther-Zeit zum HipHop der Epochen Bush sr. und Clinton zu ziehen.

Auto-Sampling ist zwar noch selten. Aber die Perlenkette der Momente nicht mehr als zusammenhängende Reihe einmaliger Zustände zu lesen, auch nicht als lange geplantes Projekt oder Werk, sondern ihr eine popspezifische Kontinuität der Einzelmomente zuzubilligen und sich im eigenen Werk darauf zu beziehen – das ist heute nicht nur bei den drei alten Männern verbreitet, von denen eingangs die Rede war.

Denkt man an die langlebigsten kontinuierlichen Arbeiter aus der Punk Generation – The Fall seit 1977, Sonic Youth seit 1981, The Melvins seit 1986 –, so findet man eine Fülle an musikalischen und außermusikalischen Bezugnahmen auf den Job, in der Gegenwart diese Gegenwart und eine bestimmte Vergangenheit zugleich aufführen zu müssen. Sonic Youth rekonstruierten sich zum fast zehnjährigen Bestehen mit den Mitteln der avancierten Band als Teenager („Teenage Rebellion“). Die Melvins adressierten in ihrer Masochismus-Trilogie („The Maggot“, „The Bootlicker“, „The Crybaby“) die Demütigungen der Pubertät in einer Parallelschaltung zu zwei TeenieStars unterschiedlicher Epochen. Sie ließen Leif Garrett, den Helden ihrer eigenen Kindheit, den Song singen, mit dem ihr enger verstorbener Freund Kurt Cobain zehn Jahren zuvor einen Teenager- Hit hatte: „Smells Like Teen Spirit“.

Ein Werk oder eine Kontinuität baut also der auf, der sowohl die historische Sekunde als auch die spezifische Verschränkung ihrer Erinnerung mit der Gegenwart berücksichtigt – als Songwriter, Performer oder Philologe in eigener Sache. Womöglich ist es diese multiple Präsenz, die uns an Dylan, Reed und Young das Interesse nicht verlieren lässt. Die postmodernen Lösungsmodelle einer Kontinuität durch scheinbar unbegrenzten Wandel, wie sie Bowie von 1970 bis 1982 eindrucksvoll verkörpert hat, sind auf Dauer zu berechenbar unberechenbar.

Der Autor lehrt am Institut für

Gegenwartskunst in Wien und an der

Merz-Akademie Stuttgart.

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