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Kultur: Freiheit!

Die türkischen Proteste / Von Sema Kaygusuz.

Ich bin 41 Jahre alt und habe nun zum ersten Mal ein Land. Dieses Land ist nicht mehr eine Eventualität, sondern eine neue Zukunft, die sich mit dem Widerstand im Gezi-Park manifestiert. Dort geschieht derzeit Einzigartiges. Das Charakteristischste dieses Protestes besteht darin, dass er frei von Hass ist. Es ist das Lachen, das dem Tyrannen den Nerv raubt, eine außergewöhnliche Art der Solidarität von sprühender Intelligenz und eine friedliche Aktionsform. Alle, die sich dort versammelt haben, schieben konfessionelle und religiöse, rassistische und nationalistische, also sämtliche politischen Neigungen, die Individualität und Individuum missachten, beiseite und erinnern die Türkei an einen gemeinsam Wert: den Wert der Freiheit. Ungeachtet der entsetzlichen Provokationen, mit denen der Ministerpräsident die Gesellschaft terrorisiert, der irreführenden Rhetorik vertrauensunwürdiger Staatsmänner, der brutalen Polizei, die die Bürger attackiert, aller Verleumdungen, Lügen und Panikmache zum Trotz wird dieser fröhliche Aufstand im Andenken an jene, die erblindeten, und jene, die ihr Leben ließen, einen jeden verändern.

Der Ministerpräsident muss den Rückzug antreten und sich bei allen, die er beleidigt hat, entschuldigen. Auf dem Taksim-Platz, dem Herzen dieses Landes, das zugleich ein mediterranes, nahöstliches, europäisches und ein Schwarzmeerland ist, dieser großen Halbinsel, die die ägäischen Zivilisationen und Anatolien in ihren Genen trägt, wäre es überheblich zu glauben, man könne eine friedliche Volksbewegung mit Waffengewalt niederzwingen.

Es macht nichts, wenn käufliche Schreiber und ihre Bosse in den Mainstreammedien, die die Wahrheit vor der Bevölkerung verbergen, schweigen. Ohnehin können sie den Skandal, den sie verursacht haben, nicht mehr ausmerzen. Nicht nur die Regierungspartei AKP muss ihre Lehren aus dem Widerstand vom Gezi-Park ziehen. Es ist wohl deutlich geworden, wie primitiv das paternalistische Verhältnis ist, das die politische Führung zur Gesellschaft pflegt. Von nun an wird alles aufgeklärt, illegale Interventionen und das Massaker in Reyhanli, Knochenfunde in Gruben und der Anschlag auf Hrant Dink, das Roboski-Massaker und die Suizide von Soldaten beim Militär und alles, was sonst noch aufzuzählen wäre. Nicht sofort, aber es wird geschehen. So sehr faschistische Geister versuchen, der Bevölkerung ihr tödliches Gedankengut aufzuzwingen – die erste gemeinschaftliche Emotion, die aus den Baumwurzeln spross, war doch unbändige Lebensfreude. Dies ist eine großartige Gelegenheit, das Böse und Schlechte samt dem Pessimismus ins Museum zu verfrachten.

Sema Kaygusuz lebt als Schriftstellerin in Istanbul. Bei Matthes & Seitz erschien soeben ihr Erzählungsband „Schwarze Galle. Sabine Adatepe hat ihren Beitrag aus dem Türkischen übersetzt.

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