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Sendungsbewusst. Die 16-jährige Klimaaktivistin Greta Thunberg am Freitag auf der Piazza del Popolo in Rom.

© AFP/Filippo Monteforte

"Fridays for Future" als Religion?: Alle verehren Greta

Warum trägt die Bewegung „Fridays for Future“ quasi-religiöse Züge? Der Religionssoziologe Hans Joas über das Heilige und den Unterschied zum Charismatischen.

Von Anna Sauerbrey

Herr Joas, die „Fridays for Future“-Bewegung wird gerne in die Nähe eines religiösen Phänomens gerückt. Jetzt hat Greta Thunberg sogar an einer Papst-Audienz teilgenommen. Was ist es denn, was manchen an Greta Thunberg heilig vorkommt?

Es gibt vielerlei Figuren im politisch-kulturellen Leben, die bei bestimmten Menschen große Begeisterung auslösen. Der übliche Begriff dafür ist aber eher nicht „heilig“, sondern charismatisch. Der amerikanische Psychologe Erik Erikson spricht von „Charisma-Hunger“. 

Es gibt Situationen, in denen Menschen das Gefühl haben, dass sich etwas ändern muss. Sie wissen aber selbst nicht genau, was es ist und wie es sich ändern kann. Dann werden bestimmte Figuren mit einer Art Erlösungshoffnung aufgeladen.

Was unterscheidet das Charisma vom „Heiligen“?
Zunächst einmal sind das verschiedene Theorie-Traditionen. Ich glaube, dass für das Phänomen Thunberg der Begriff Charisma der hilfreichere ist, weil man beim Heiligen ja zunächst gar nicht an Personen denkt. Zeiten können heilig sein, Räume, Vorstellungen. Bei Greta Thunberg reden Sie aber von einer Person, die in einer unbedingten Weise eine Veränderungsnotwendigkeit symbolisiert.

Wie verstehen Sie den Begriff denn in Ihrem Buch „Die Macht des Heiligen“?
Ich versuche, Religionen weniger auf der Ebene von Institutionen oder Doktrinen zu sehen als ausgehend von der Ebene menschlicher Erfahrungen, die im Prinzip allen Menschen zugänglich sind. Es sind ja nicht die einen Menschen aus Veranlagung religiös und die anderen haben keinen Zugang dazu oder sind erfreulicherweise frei von dieser „Störung“ . Vielmehr gibt es Erfahrungen, die Menschen über ihren Alltag hinausheben. Ein Beispiel ist die Naturbegeisterung auf dem Gipfel eines Berges oder im Wald, im Frühling ...

… beim Osterspaziergang …
Zum Beispiel. Oder das Verlieben. Oder auch Negatives, wie die Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen. Diese Erfahrungen führen dazu, dass sich bestimmte Gegenstände mit einer ungeheuren emotionalen Bedeutung aufladen. Nicht im Kopf, sondern im Bauch. Ein Zuhörer eines meiner Vorträge erzählte einmal, er habe an sich festgestellt, dass er die Karte für das Konzert nicht wegwerfen könne, auf dem er vor Jahrzehnten seine Frau kennenlernte. Ein völlig profaner Gegenstand nimmt im Erleben dieses Mannes eine bestimmte Aura an.

… und wird damit „heilig“?
Ja. Aus dem individuellen kann auch ein kollektives oder kulturbestimmendes Phänomen werden. Es werden Regeln für den Umgang mit diesem Heiligen erzeugt. Zum Beispiel darf nicht jeder in Kontakt mit ihm treten. Die Religionen sind dann die Institutionen, die ein ganz bestimmtes Heiliges verstetigen und es den Menschen ermöglichen, diese Vorstellungen an die nächste Generation weiterzugeben.

Sie schreiben dem Heiligen eine stärkere Präsenz in der Gesellschaft zu als viele andere und verstehen es als Gegenerzählung zu Max Webers These von der „Entzauberung der Welt“…

Der Soziologe Max Weber verwendete den Begriff „Entzauberung“ ab 1913 und strickte damit eine außerordentliche suggestive Geschichte: die vom religiösen Kampf, später vom weltlichen Kampf gegen die Magie. Weber beginnt mit den alttestamentlichen Propheten und führt das über verschiedene Zwischenstufen – die Reformation, die frühneuzeitliche Wissenschaftsrevolution, die Aufklärung – bis in seine Gegenwart. Am Ende könnten die Menschen durch die „Entzauberung“ der Welt nichts an sich Sinnhaftes oder Sinnvolles mehr finden. In Wahrheit stecken in der Entzauberungsgeschichte aber mehrere Phänomene, die wir voneinander unterscheiden sollten: die Entmagisierung, die Entsakralisierung, also der Verlust eines unmittelbar erlebten tiefen Sinnes, der Verlust von Transzendenz, die Säkularisierung. Aber die Geschichte verläuft nicht linear. Wir erleben immer wieder Prozesse der Entstehung von Magie und des Kampfes gegen Magie, von Säkularisierung, aber auch von religiöser Revitalisierung wie zum Beispiel derzeit in Ostasien.

Der Religionssoziologe Hans Joas lehrt unter anderem an der Humboldt-Universität Berlin.
Der Religionssoziologe Hans Joas lehrt unter anderem an der Humboldt-Universität Berlin.

© imago/ Wolf P. Prange

Entsteht mit der Klimabewegung neue Religiosität? Ich hätte eine Hypothese dazu.
Aha?

Die heutigen Probleme sind so komplex, dass wir sie kaum noch individuell nachvollziehen können. Wir sind auf Experten angewiesen. Wissenschaftliche Fragen werden so scheinbar zu Glaubensfragen – auch beim Klima. Was Weber beschrieben hat, die Überzeugung, im Prinzip alles erklären zu können, geht verloren, wenn Erklärungen nicht mehr überprüfbar sind.
Ich verstehe, was Sie vor Augen haben, aber ich würde das anders beschreiben. Ich glaube zunächst einmal nicht, dass es einen epochalen Unterschied zwischen der Zeit von Max Weber und der Gegenwart gibt. Auch Weber wusste, dass der Mensch, der mit der Straßenbahn fährt, nicht weiß, wie das genau funktioniert. Dem Umgang mit Technik liegt Technikvertrauen zugrunde, nicht notwendig Technikkenntnis. Aber es kann Vertrauenskrisen gegenüber Wissenschaft und Technik geben. Den größten Einschnitt unserer Zeit würde ich nicht beim Klimawandel, sondern auf Hiroshima und Tschernobyl datieren. Nach 1986 entstand eine Welle von Literatur über die unbeherrschbaren Risiken von Großtechnologien. Davor hatten die Menschen Angst vor der unbeherrschten Natur. Jetzt haben sie Angst vor der Art und Weise, wie mit Natur umgegangen wird. Das sehe ich in der Klimabewegung verkörpert, aber auch in anderen Bereichen, bei Nahrung und Medizin. Aber mit einer Revitalisierung von Religion hat das nichts zu tun.

Zumindest könnte die Angst davor, die Welt nicht mehr beherrschen zu können, die Sehnsucht nach einer höheren Macht wecken – analog zum Charisma-Hunger, der Sehnsucht nach einer Führungsfigur.
Ich lehne die Vorstellung ab, der religiöse Glauben entstünde vornehmlich aus der Kompensation von Defiziten, daraus, dass wir die Welt nicht beherrschen und dann auf das Religiöse verfallen. Die Wurzeln von Religiosität liegen oft auch in Gefühlen der Begeisterung und von Dankbarkeit: die Dankbarkeit, am Leben zu sein, zu lieben und geliebt zu werden.

Ist die Begeisterung bei Straßenprotesten eine Form der Transzendenz, Herr Joas?

Sendungsbewusst. Die 16-jährige Klimaaktivistin Greta Thunberg am Freitag auf der Piazza del Popolo in Rom.
Sendungsbewusst. Die 16-jährige Klimaaktivistin Greta Thunberg am Freitag auf der Piazza del Popolo in Rom.

© AFP/Filippo Monteforte

Vielleicht ist das Quasi-Religiöse an „Fridays for Future“ auch die Begeisterung im Kollektiv, das Gefühl, man wachse durch die Bewegung über sich hinaus …
Ich möchte nicht bestreiten, dass man sich durch das Gemeinschaftserlebnis auf Demonstrationen über sich selbst hinausheben kann. Doch gilt das leider für Demonstrationen aller Art. Also auch für die Attacke auf Einwanderer.

Ist das auch eine Art Rauschzustand?
Ja. Aber es besagt noch nichts über die moralische Bewertung …

Kann durch diese Form der Transzendenz, um es nochmals in einen religiösen Begriff zu fassen, politische Macht entstehen?
Gesellschaften sind darauf angewiesen, die Quellen der Begeisterung zum Fließen zu bringen – ob in religiöser oder politischer Hinsicht. Nicht jede Art von Begeisterung ist aber gut. Ich möchte die Schülerdemonstrationen nicht voreilig zu einem neuen historischen Phänomen stilisieren. Es gibt in allen Gesellschaften spontane Phänomene, in denen aus Charisma-Hunger einzelne Figuren zu Charismatikern werden. Oft nur für kurze Zeit. Wenn eine Bewegung andauert, entgeht keine der Institutionalisierung, dem, was Weber die Veralltäglichung des Charismas nennt.

In Ihrem Buch befassen Sie sich auch mit der Entstehung von Idealen, mit der Unterteilung der Welt durch den Menschen in gut und schlecht. Wie funktioniert das?
Das Heilige, wie ich es verstehe, ist weder moralisch gut noch schlecht. Auch das Schlechte, sprich das Teuflische und Dämonische erfüllt die Bedingung hoher emotionaler Aufladung. Das, was dabei tief emotional packend ist, kann nun selber zu der moralischen Überlegung führen: Darf ich mich von dem, was mich da packt, packen lassen? Oder ist das die Verführung zu etwas Bösem? Ideale sind das Ergebnis einer solchen Reflexion über das Heilige. Sie bewerten, ob das, was ich als heilig erlebt habe, gut ist und Bindekraft für mich und andere haben sollte oder nicht. Deshalb steckt da auch leicht etwas Missionarisches drin. Denn habe ich das einmal erkannt, möchte ich auch, dass andere sich anschließend fügen.

Der Religionssoziologe Hans Joas lehrt unter anderem an der Humboldt-Universität Berlin.
Der Religionssoziologe Hans Joas lehrt unter anderem an der Humboldt-Universität Berlin.

© imago/ Wolf P. Prange

Ein junger Mensch geht zu einer Demonstration, er empfindet die Situation als intensiv und emotional und leitet daraus eine moralische Vehemenz ab …
Klar. Aber vieles hier ist ein typisches, sympathisches Phänomen der Jugend. Mir erschließt sich allerdings die Verehrung von Greta Thunberg nicht. Ich kann es begreifen, aber nicht nachempfinden. Das ist bei Charisma-Phänomenen ganz normal. Auch politisch kann ich die Begeisterung für „Fridays for Future“ freilich nicht ganz nachvollziehen.

Warum?
Man kann den kompromisslosen Idealismus, zu dem Jugendliche neigen, in Hinsicht auf die Motivationskraft begrüßen. Man entkommt aber nicht der Frage, welche Kompromisse eingegangen werden müssen, damit die Forderungen friedlich und realistisch gelebt werden können. Mich stört es, wenn die Demonstranten die Arbeitsplatzinteressen etwa in der Lausitz nicht genügend ernst zu nehmen scheinen. Es liegt in der Verantwortung von Politikern und allen Erwachsenen, den Jugendlichen das entgegenzuhalten. Es ist gespenstisch, wenn das ausbleibt und man sich einfach anbiedert.

Ist eine Entzauberung notwendig?
Jedenfalls sollten diese Klimaproteste nicht so idealisiert werden, wie es in den Medien derzeit geschieht.

Der Sozialphilosoph Hans Joas, 1948 in München geboren, lehrt an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin und an der Universität von Chicago. Der Ernst-Troeltsch-Honorarprofessor widmet sich in seinen Forschungen Fragen von Religiosität und Wertewandel. Zuletzt erschien 2017 bei Suhrkamp sein Buch "Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung".

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