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Kultur: Frist oder stirb

Wie Kunst das Leben verlängern kann: Harald Weinrichs brillanter Essay über die Zeit

Immer das Gleiche. Im Januar den Kalender kaufen und staunen über die viele Zeit, die vor einem liegt. Im Dezember dann zuklappen und stöhnen, wie schnell sie verflogen ist. „Wer jung und gesund ist, braucht nicht zu wissen, was die Zeit ist und wie knapp das Dasein befristet ist“, schreibt der Sprach- und Literaturwissenschaftler Harald Weinrich in seinem Essay „Knappe Zeit – Kunst und Ökonomie des befristeten Lebens“.

Wenn die Zeit, wenn der Kalender zum Problem wird, ist man also entweder nicht mehr ganz gesund oder nicht mehr ganz jung. Was tun? Wenn man schon nicht die Zeit verlängern kann, so kann man doch immerhin das Denken über deren Kürze intensivieren. Harald Weinrich – das einzige deutsche Mitglied des illustren Pariser Collège de France –, liefert eine Fülle von Beispielen und klugen Gedanken für den Umgang mit der knappen Zeit. Ein Wissensbuch, ein Lese- und Denkbuch.

Das Nachdenken über die Zeit ist seit der Antike ein Thema für Philosophie und Literatur. In Senecas kurzer Abhandlung über die Kürze des Lebens fordert der stoische Denker (um 50 n. Chr.) ein Zeitbewusstsein, das sich vom Ende her denkt: Nur wer weiß, dass sein Dasein begrenzt ist, könne richtig leben. Das heißt: die Lebenszeit nicht wie die „Immer-Geschäftigen“ für nichtige Ziele verschleudern, sondern sich auch genügend um die notwendige „Eigenzeit“, die Zeit der Muße kümmern, mit Philosophie und den schönen Künsten. Wer so lebt, für den sei die Lebenszeit, so Seneca, „lang genug“.

Schon um 400 v. Chr. hat Hippokrates über das Auseinanderklaffen von Lebenszeit und Wissens- bzw. Lebenstechnik nachgedacht. „Kurz ist das Leben, lang ist die Kunst“, lautet der berühmte erste Satz des Aphorismus, der sich in zahllosen Variationen fortentwickelte. „Denn der Weg ist lang und die Zeit ist kurz“, heißt es bei Petrarca.

Auch Mephisto ist im Faust auf Hippokrates’ Spuren: „Doch nur vor Einem ist mir bang’: / Die Zeit ist kurz, die Kunst ist lang“. Schiller modifiziert den Satz zu „Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst“ (Wallenstein). Weinrich verfolgt die Wanderung des Hippokrates- Satzes durch die Jahrhunderte bis heute. Und? Obwohl die Menschen immer älter werden, also über mehr Zeit- Kapital verfügen, will sich die „hippokratische Zeitschere“ nicht zu unseren Gunsten schließen.

Um 1300 wurde in Oberitalien etwas erfunden, das bis heute unseren Lebenstakt vorgibt: die Uhr. Mit ihr hat sich unser Leben geändert, indem der Tag in immer kleinere Zeiteinheiten zerstückelt wurde. Das 14. Jahrhundert hat nach Weinrich eine „zeitbesessene Geschichtsepoche eröffnet, die bis heute andauert“.

Heute redet man von Zeitmanagement. Und doch hat der Mensch heute nicht mehr Zeit, sondern nur das trügerische Gefühl, etwas für den Zeitgewinn getan zu haben. In Rilkes „Malte“ versucht Kusmitsch seine restlichen Lebensjahre in Minuten und Sekunden umzurechnen und dieses Zeitkapital nur als Kleingeld auszugeben; er schläft weniger, trinkt seinen Tee im Stehen – und doch rinnen ihm die „lumpigen Sekunden“ nur so durch die Finger. Als Gegentherapie beginnt er, Gedichte von Puschkin zu rezitieren. Und siehe da, die Poesie wird ihm zum Mittel der Zeitdehnung und -intensivierung. Die Lebenszeit auf literarische Weise tatsächlich zu verlängern, gelingt allerdings nur Schehrezâhd, die in „Tausendundeiner Nacht“ durch ihr Erzählen den Termin ihrer Hinrichtung immer weiter hinausschiebt.

Überhaupt tritt uns Zeitgeplagten die Zeit zumeist als Frist entgegen, nicht nur auf der Stromrechnung. Mit genaueren Zeitmessern nimmt auch der Zeitdruck zu – und die Bestrafung, wenn die Frist nicht eingehalten wird. Das Rechtssystem, zeigt Weinrich, basiert auf einem höchst komplexen Fristenwesen. Sogar im Jenseits sind wir vor Fristen nicht sicher: Weinrich liest Dantes Purgatorium aus der „Göttlichen Komödie“ als Hölle auf Zeit. Entsprechend den Sünden zu Lebzeiten muss die Seele im Fegefeuer eine bestimmte Zeit ausharren, um sich den Weg ins Paradies zu verdienen. „Hier äußert sich Gottes Gerechtigkeit vor allem als Zeitgerechtigkeit.“ Dantes Freund Forese, der im Diesseits den Gaumenfreuden maßlos gefrönt hat, muss hier für eine ganauso lange Zeit büßen, wie er sie zu Lebzeiten durch seine Gaumenlust vergeudet hat. Weinrich sieht hier eine „streng quantitative Zeitgerechtigkeit“ am Werke, nach der die im Diesseits „gestohlene“ Zeit wiedererworben werden muss.

Wie Weinrich die Literaturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart durchstreift, wie er in knappen Sätzen Philosophie- und sogar „Uhrengeschichte“ treibt, gestützt durch sprachwissenschaftliche Fundamente, kurz: wie er eine allgemeine Kulturgeschichte des befristeten Lebens verfasst – das ist fabelhaft gemacht. Was das Wesen der Zeit ist: Darauf will auch Weinrich keine Antwort geben. Es gilt der Satz des Augustinus, der vor über 1500 Jahren bekannte: „Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es. Will ich es dem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.“

Weinrich zeigt vielmehr, was die Zeit mit uns macht, aber auch, was wir mit der Zeit machen können. Ganz so ausgeliefert sind wir ihr nämlich gar nicht. Die Kultur selbst – diese Gewissheit schlängelt sich auf höchst anschauliche Weise durch das Buch – setzt dem mechanisch messbaren Zeitvergehen einen eigenen Rhythmus entgegen. Kultur kann Zeit nicht quantitativ verlängern, aber sie kann sie qualitativ verbessern, intensivieren. Kulturell angelegte Zeit ist demnach geschenkte Zeit – auch wenn sie Zeit kostet.

Dieses Buch bestellen Harald Weinrich: Knappe Zeit. Kunst und Ökonomie des befristeten Lebens. Verlag C.H. Beck, München 2005. 272 Seiten, 22,90 €.

Tom Heithoff

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