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FundSTÜCKE: Expedition mit Krankenschwester

Literatur und Leben. Es ist ein alter Traum, dass die Dichtung und die Wirklichkeit miteinander eines werden.

Literatur und Leben. Es ist ein alter Traum, dass die Dichtung und die Wirklichkeit miteinander eines werden. Ein Traum – und womöglich ein Alptraum. Wer möchte schon morgens gerne in einen Roman von Poe oder Houellebeq, von Stephen King oder auch nur auf der falschen Seite bei Dan Brown erwachen. Nein, Bücher und Leser gehören zusammen, aber sie haben ihr Eigenleben.

Trotzdem hat jeder schon erlebt (und erlesen), dass es zwischen den Sphären der Fiktion und der Realität tiefere Verbindungen gibt. Die schönste, beunruhigendste, abenteuerlichste Erfahrung mit einem Buch ist ja die, wenn man sich bei der Lektüre etwa eines Romans, der eigentlich in einer anderen Zeit und vielleicht in fernen Ländern spielt, am Ende fragt: Woher weiß der Autor oder die Autorin das alles – von mir?

Touché. Ein Buch, ein Kunstwerk von Rang trifft: den Leser, den Betrachter, die eigene und oft antizipierend auch eine künftige Zeit. Unterhalb dieser ganz großen und gar existenziellen Kunsterfahrung gibt es allerdings noch schlichtere, gleichwohl überraschende Formen der Betroffenheit.

So finde ich ich kürzlich im Tagesspiegels die Rezension eines neuen Buchs des Berliner Schriftstellers Hans Christoph Buch. Es heißt „Nolde und ich. Ein Südseetraum“. Ich kenne und schätze den Autor persönlich, hatte aber noch nichts von seinem in der Reihe „Kometen“ der Anderen Bibliothek erschienenen kleinen Prosaband gewusst. Buch erzählt von der Südseereise, die der Maler Emil Nolde als Begleiter einer wissenschaftlichen Expedition 1913/14 in das damalige Deutsch-Neuguinea unternommen hat. Knapp 100 Jahre danach ist auch Buch in diese bis heute durchaus exotische Region gereist. Auf den Spuren Noldes. Diese eigene Erfahrung hat Buch gegen die mit fiktionalen Elementen arbeitende historische Erzählung geschnitten.

Gegenüber dieser Komposition deutete der Tagesspiegel-Kritiker leise Einwände an. Doch im letzten Absatz der Rezension heißt es: „Wir verdanken Hans Christoph Buch die authentische Geschichte der schönen Gertrud Arnthal, die Emil Nolde vom Antisemitismus kurierte und heute irgendwo in den Tiefen des Marianengrabens ruht...“

Gertrud Arnthal war 23 Jahre jung und hatte die Expedition als Krankenschwester begleitet, als sie im April 1914 in Neuguinea der Malaria erlag. Und sie war die Schwester meiner Großmutter. Meine Großtante. Meine sehr geliebte Großmutter Vera hat von ihrer Lieblingsschwester Gertrud auch ein Lebensalter später noch mehrfach erzählt. Vera und Gertrud waren, da ihre Eltern früh starben, bei ihrem Berliner Onkel Eduard Arnhold aufgewachsen. Onkel Edu, wie er in unserer Familie hieß, war Industrieller und ein Mäzen der Künstler, er hat die Villa Massimo in Rom gestiftet und Emil Nolde und dessen Frau Ada mit der damals beachtlichen Summe von 10 000 Reichsmark die Südseefahrt finanziert. Und er hat seine Nichte Gertrud zur Pflege von Frau Nolde mit auf die Reise geschickt.

Dafür hat ihm Nolde freilich nie gedankt. In Noldes Autobiographie „Mein Leben“, zuerst in den 1930er Jahren erschienen und 2008 bei DuMont wieder aufgelegt, wird Eduard Arnhold mit keinem Wort erwähnt. Der Grund: Eduard Arnhold war Jude. Und Emil Nolde, der eigentlich Hansen hieß und der dänisch-deutschen Minderheit in Nordschleswig entstammte, gehörte als Expressionist ab 1933 zur „Entarteten Kunst“. Nolde hatte offiziell Malverbot (davon handelt auch Siegfried Lenz’ Roman „Deutschstunde“), er biederte sich aber bei den Nazis an. Mit Lobpreisungen Hitlers und antisemitischen Ausfällen. Immer wieder.

Hans Christoph Buchs Pointe, Gertrud Arnthal, deren Gedenktafel auf dem Grab meiner Eltern und Großeltern steht, habe den Künstler, in Buch-Noldes Worten, „von meinem Judenhass geheilt“, gehört also ins Reich dichterischer Freiheit. Ebenso wie die Spekulation, Großtante Gertrud sei womöglich ein uneheliches Kind von Eduard Arnhold gewesen. Dafür hat Nolde auf der Südseereise allerdings zwei seiner schönsten Aquarell-Porträts von Gertrud Arnthal gemalt. Sie sind hoffentlich ab 5. März bei einer großen Nolde-Retrospektive im Frankfurter Städel Museum zu sehen.

Peter von Becker

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