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Kultur: Gedichtcollagen: Jedes Wort ist ein Spürhund

Ein ganz und gar ungewöhnliches Buch. Nicht nur, weil es aus der Buchlandschaft als etwas ungewöhnlich schön und sorgfältig Gemachtes herausragt.

Ein ganz und gar ungewöhnliches Buch. Nicht nur, weil es aus der Buchlandschaft als etwas ungewöhnlich schön und sorgfältig Gemachtes herausragt. Nicht nur, weil es seinen Inhalt pur, ohne Gattungsbezeichnung, Klappentext und sonstige Leseanweisungen präsentiert, sondern vor allem seiner eigenwilligen Text-Bilder wegen. Es handelt sich, oberflächlich betrachtet, um Gedichte mit beigegebenen Collagen. Doch bei näherer Betrachtung lässt sich manchmal nur schwer entscheiden, wo der Text aufhört und das Bild anfängt.

Im Unterschied zu der 1993 von Herta Müller erschienenen Collagen-Sammlung "Der Wächter nimmt seinen Kamm" steht kein Strichmännchen mehr kommentierend neben dem Text. Das Gedicht setzt sich jetzt direkt im Bild fort.

Der Schwerpunkt in Herta Müllers Werk liegt auf der Prosa. Seit sie 1987 aus Rumänien auswanderte, hat sie sechs Romane und zwei Essaybände veröffentlicht. Doch die Wort-Bildcollagen ermöglichen so etwas wie ein spielerisches Erproben ihrer Sprache. Wie wichtig das für ihr Schreiben ist, zeigt sich unter anderem daran, dass in ihrem Arbeitszimmer neben dem Schreibtisch ein genauso großer zweiter Tisch steht, der übersät ist mit Wort- und Bildschnipseln. Den Grund nennt Herta Müller in einem ihrer Essays.

Dort schildert sie, wie jeder Satz, den sie schreiben will, nur darauf lauert, dass sie ihn falsch anpackt, um in schrillen Missklang auszubrechen. Jeder Satz wisse genau, wie er lauten müsse; sein Schreiber glaube nur, den Satz zu kennen. Mit den Gedichtcollagen packt Herta Müller diesen Eigensinn der Sätze beim Schopf und schickt ein Wort, manchmal auch nur eine Silbe, als Scout aus, den Rest der Zeile zu suchen.

Gestotterte Verzweiflung

So trägt jede Zeile die Spuren ihrer Entstehung, zeigt, wie dichterische Bilder sich Zeile für Zeile aufbauen, welche Wort- oder Silbenassozationen ihnen zu Grunde liegen und wie das Zerstückeln von Wörtern ihre Bedeutung modifiziert, Ironie oder gestotterte Verzweiflung durchscheinen lässt. Manchmal scheint die Suchmaschine allerdings verrückt gespielt und einen bunten Wortsalat angerichtet zu haben, der sich erst beim lauten Lesen als geschlossener Text entpuppt.

Auch in den neuen Gedichten von Herta Müller geht es um Tod, Angst und Einsamkeit. Ein lyrisches Ich von höchster, mitunter verstörter Sensibilität erzählt von seiner Kindheit und Jugend in einem (banatschwäbischen) Dorf und einer benachbarten Kleinstadt; und doch ist ein neuer, heiterer Ton in den Texten.

Mit gemieteten Haaren

Er entsteht, weil die verschiedenen, oft heftig gegeneinander arbeitenden Bedeutungsebenen so leicht verknüpft werden wie in einem surrealen Vexierspiel. Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch einen momentweise anklingenden Sprach- und Reimwitz, der an Ringelnatz oder Morgenstern erinnert: "um sechs fuhr der Schachzug / um sieben der Frachtzug / um acht fuhr der Nachtzug / um neun hielt der Aufzug / ein Zugereister im Anzug stieg aus / und sagte mit Traubenaugen / wo kann hier der Bahnhof sein / dort sage ich und kämmte mich / und ließ ihn allein ins Schwarze gehen / über das Haus zu den schaumweißen Ziegen / mit ewig gemieteten Haaren / die um zehn im arglosen Luftzug fliegen / Füße im Nacken schon seit elf Jahren."

An einen Kinderreim erinnert die optisch hervorgehobene Endsilbe -zug der ersten Zeilen, deren Sogwirkung erst am großen, fettgedruckten Wort "Traubenaugen" endet. Unwillkürlich schaut man als Leser an dieser Stelle zum Bild unter dem Gedicht: Hier nimmt ein Mädchen die Endsilbe der ersten Zeilen wieder auf und spannt sich als Zug-Tier vor einen Karren, der aber im gleichen Moment schon mit ihrem Double davon zu fliegen beginnt.

Für den Leser schreiben die Bildelemente also das Gedicht fort, indem sie ein traumhaft-surreales oder auch sehr reales bildliches Spannungsfeld hinzufügen. Für den Betrachter ist dabei klar zu erkennen, dass die Wort- und Bildbedeutungen hier auf der gleichen (sprachlichen) Wahrnehmungsebene angesiedelt sind. Was nicht weiter verwundert: Wer Herta Müllers Prosa kennt, weiß, welches Eigenleben die Dinge in ihrer Vorstellungswelt besitzen; mitunter sind es allein die umgebenden Gegenstände, die ihren erstarrten Betrachtern bestätigen, noch am Leben zu sein. Und manchmal scheinen sie ihre verzweifelten Besitzer, deren Inneres sich unter dem Druck der Verhältnisse nach außen gestülpt hat, völlig aufgesaugt zu haben.

Eine im bösen Sinne verkehrte Welt wird hier beschrieben. Zwar sind die Schrecken der kindlichen Wahrnehmung für die heute schreibende Herta Müller einer bitteren Ironie gewichen; doch ihre Affinität zu Kinderreimen und Abzählversen verdankt sich wohl deren Möglichkeit, sich zwischen Wut, Schrecken und Gelächter hin und her zu bewegen.

Blass wie Zement

Und noch eine Sorte Gedichte gibt es in diesem Band, die typisch "westliche" Themen behandeln und von vornherein den Text wie ein Bild setzen: "spätabends an der Wohnungstür / erscheint ein Freund vom Herzrevier / blass wie Zement und schwört / er sei seit Mitte Mai verstört / weil ein Gestrüpp aus Frau und Krise / ihn am Roman nicht schreiben ließe / dann kommen Fremdenhaß Verkehr / die Deppen von der Bundeswehr / und dass er einen Lehrer kennt / der seinen Hund Europa nennt".

Wir wissen natürlich nicht, um welchen Autor es sich hier handelt; aber wir würden ihm, zur sprachlichen Selbstvergewisserung und zur letzten Lockerung, die Herstellung von Textcollagen empfehlen.

Nicole Henneberg

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