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Kultur: Gefängnis-Theater: Westlich von Santa Fu

Eine Theaterschlägerei. Die vierzehn Männer auf der Bühne prügeln sich in kleinen Gruppen, immer heftiger, der Regisseur stürzt auf die Bühne, wirft sich zwischen die Kämpfenden: "Hört auf jetzt!

Eine Theaterschlägerei. Die vierzehn Männer auf der Bühne prügeln sich in kleinen Gruppen, immer heftiger, der Regisseur stürzt auf die Bühne, wirft sich zwischen die Kämpfenden: "Hört auf jetzt!" Endlich Beruhigung - und "die ganze Szene nochmal". Bange Stille im Publikum. Wir sind nicht im Theater, wir sind im Gefängnis, im berühmten Hamburger Knast in Fuhlsbüttel. Santa Fu. Gefangene spielen "Die Kannibalen" von George Tabori. Sind sie wirklich ausgerastet? Doch natürlich - alles war inszeniert.

Theater im Gefängnis, ist das nicht unanständig, voyeuristisch, Knackis gucken als besonderer Kitzel? Nichts dergleichen. Eine lange Schlange wartet vor dem Gefängnis und will dort rein. Man wird kontrolliert, muss die Ausweise abgeben, die Männer bekommen ein Plastikarmband, damit nicht der Falsche wieder rausgeht. Der Gefängnisdirektor, Jobst Poenighausen, verteilt höchstpersönlich die Eintrittsnummern. Ein schöner Innenhof, Stahltüren, dann der Kirchensaal, proppevoll mit Zuschauern. Hinten ein Ausschank, vorne quer grenzen Gitterstäbe die weitflächige Bühne ab: das Bühnenbild zu Kannibalen (von Marion Eiselé). Dahinter eine mehrstufige Podestlandschaft, man erkennt die Empore, rechts und links Holzpritschen übereinander. Wir sind im Gefängnis - und im KZ.

"Kannibalen" spielt im Vernichtungslager und spielt im Kopf der Söhne, die sich an ihre Väter erinnern. Ausgehungerte KZ-Häftlinge wollen ihren dicksten Mitgefangenen essen, gegen den Widerstand ihres Anführers, des "Onkels". Eine typische Tabori-Groteske, ein wütender Wirbel von Tragik und Komik und mehr. "Kannibalen" wurde 1968 in New York uraufgeführt, zum Erschrecken mancher Zuschauer, denn noch nie zuvor hatte ein Theaterstück in Auschwitz gespielt, dort, wo George Taboris ungarischer Vater im Mordsommer 1944 ermordet worden war.

In Berlin folgt 1970 die europäische Erstaufführung: in der Werkstatt des Schillertheaters, inszeniert von George Tabori. Mitspieler sind damals zwei jüdische Schauspieler, Michael Degen und Herbert Grünbaum. KZ-Häftlinge als Kannibalen! Die jüdische Gemeinde protestierte, schon vorab. Man erwartete einen Skandal. Es wurde ein Erfolg. Dämme brachen. Durften Juden normale Menschensein, als Opfer auch Täter, die ums Überleben kämpfen? George Taboris Antwort lautete: "Es gibt Tabus, die zerstört werden müssen, wenn wir nicht ewig daran würgen sollen."

Und heute Santa Fu. Insgesamt sind mehr als hundert Jahre Knast auf der Bühne. Im Schnitt fünf, sechs Jahre, einige haben auch Strafen von 15, 17 und sogar 19 Jahren abzusitzen. Schwerverbrecher. Doch etwas Seltsames geschieht: Nach wenigen Minuten wirken alle vertraut, ja, sympathisch, dieser kleine, energiegeladene Türke, wie der Cousin unseres Gemüsehändlers, dieser schöne, wohlgeformte Dunkle, wie der Nebenmann im Fitnessclub. Es sind Mörder, Gewalttäter, Drogenhändler, im besten Fall Diebe und Kreditkartenbetrüger, doch hier sieht man sie mit anderen Augen.

Das beginnt mit ihrem Auftritt, zuerst der Mann am Flügel, dann alle vierzehn Darsteller, einzeln nacheinander verbeugen sie sich, jeder auf seine Art, linkisch, elegant, scheu, selbstbewusst. Männer aller Art, tolle Typen, jeder Casting-Agent würde in Begeisterung ausbrechen. Ihre Persönlichkeit wird unterstützt durch die bunt gemischte Kleidung, kombiniert mit Teilen des gestreiften KZ-Anzugs (Kostüme: Frank Chamier). Es sind vier Deutsche, dazu Türken, Serben, Kroaten, Bosnier, Marokkaner, Rumänen und ein Sinti, der auch den Zigeuner im Stück spielt.

Sonst gibt es keine direkteren Anspielungen auf die Historie, außer dass Santa Fu von den Nazis tatsächlich teilweise als KZ genutzt wurde. Gefangene spielen jüdische KZ-Insassen, Punkt. Und die Männer hinter Bühnengittern liefern eine beeindruckende Vorstellung. Puffi, der nette, dicke Totgeschlagene, sitzt unübersehbar im großen Topf und wird gekocht und tritt auch mal aus der Rolle und spielt wieder mit, ganz wie von Tabori vorgeschrieben. Es gibt viele hinreissende theatrale Momente, etwa wenn der ältere Türke Feridun als "der kleine Lang" bei einem der vielen Spiele im Spiel eine Leberwurst sein muss. Wie spielt man eine Leberwurst? Wie einen Jungen, der ein geziertes kleines Mädchen nachmacht, charmant und komisch? Oder wenn er an anderer Stelle einen türkischen Gefühlsausbruch hat, lässig übersetzt vom "Onkel", dessen Darsteller wirklich sowas wie ein Gangsterkönig war, in echt. So fällt jeder auf, jeder hat einen Auftritt, der zu ihm passt, der auch als Darstellung überzeugt.

Die beiden jungen Regisseure Ralf Siebelt und Winfried Tobias, die dieses Wunder vollbracht haben, sind Knasttheater-erfahren. In Celle ergab sich 1997 ein Gastspiel des Celler Schlosstheaters im Hochsicherheitsgefängnis Salinenmoor, darauf folgten mehrere Inszenierungen mit den Gefangenen, ein Gastspiel in Santa Fu ergab dann den Anstoß zu diesem Projekt. Die Auswahl der Schauspieler ergab sichwie von selbst, anfangs meldeten sich ein Dutzend Interessierte, und nach einigen Gesprächen, Leseproben, Rollenverteilungen suchten und fanden die Gefangenen selbst weitere geeignete Mitspieler.

Am ergreifenden Schluss von "Kannibalen", als schließlich alle außer zweien sich weigern, ihren gekochten Puffi zu essen und in die Gaskammer geschickt werden, reihen sich die Darsteller vor dem Gitter auf; dazu evozieren sie leise zischend - ohne Peinlichkeit - das Geräusch tödlich strömenden Gases. Der junge Serbe, der den einzigen Nazi, den sogennanten "Engel des Todes" spielt, hat sich im Gefängnis als Tenor ausgebilden lassen, er singt dann seine eigene Komposition, der "Onkel" rappt einen selbstgeschriebenem Text, der junge hübsche Türke begleitet den Kroaten am Flügel auf der Conga, dazu gesellt sich ein rumänischer Saxophonspieler mit schmelzendem Sound. Es könnte nicht besser, nicht berührender sein.

Nach der Vorstellung kann man sich mit den Schauspielern unterhalten. Ich mache eine kleine Umfrage nach dem Grund des Santa-Fu-Aufenthalts, und der erste antwortet entwaffnend "Ich bin Räuber" und ist nicht so glücklich, dass er einen Verräter spielen musste, übrigens ziemlich gut. Der Darsteller von Puffi, Körperverletzung, will mich wortreich von der Falschheit der nachträglich gegen ihn vorgebrachten Diebstahl-Anklagen überzeugen. Der große Kräftige mit dem offenen Gesicht und den freundlichen Augen sagt: wegen Mord. Nein, er habe sein Opfer nicht gekannt, er war betrunken, es geschah im heftigen Streit. Der junge Türke kannte denjenigen, den er getötet hatte, aber das sei eine lange Geschichte. Der elegante Darsteller des "Onkel" sitzt wegen der "weißen Dame", Handel mit hundert Kilo kolumbianischem Kokain, unter anderem. Alle sind offen, gesprächsbereit, der Serbe, Totschlag und schwerer Raub, erzählt von seinem Fluchtversuch, Anstaltsleiter Poenighausen steht freundlich daneben. Eine vorübergehende Ausnahmesituation, natürlich. Diese Männer haben etwas verbrochen und sitzen deshalb seit Jahren ein, aber man kann nicht anders, man muss sie sympathisch finden.

Immer wieder waren Künstler, wie etwa Genet, Faßbinder, Koltés, fasziniert von der Welt des Verbrechens, verherrlichten teilweise den Kriminellen als ewigen Außenseiter, als Helden, gar als Engel. Das Erlebnis in Santa Fu ist anders. Man sieht Menschen,Täter, die eben jetzt und hier nicht Täter sind, sondern kreativ, die spielen und etwas schaffen. Die geschlossene Anstalt hat sich geöffnet. Und für alle hat sich durch das Theater-Projekt etwas verändert, für die drinnen und die draußen.

Ulrike Kahle

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