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Kultur: Geist und Kaserne

Neues Bauen: die Wissenschaftsstadt Adlershof

Kurze Wege zwischen universitärer Forschung und der Wirtschaft sind der Leitgedanke der Wissenschaftsstadt Adlershof, die sich rund um das Gelände des einstigen Flugplatzes Johannisthal im Südosten Berlins erstreckt. Der ambitionierte Anspruch des nach der Wende angestoßenen Projektes spiegelt sich auch in dessen Architektur wider – etwa beim Phonetikzentrum von Sauerbruch und Hutton (1996/98), das längst als Klassiker unter den Berliner Nachwendebauten gilt. Nach und nach nimmt auch der Campus für die naturwissenschaftlichen Fakultäten der Humboldt-Universität (HU) zwischen historischem Trudelturm und Windkanal Formen an – und schreibt damit die Tradition des Forschungstandortes an der Rudower Chaussee fort.

Doch so ein richtiges Campus-Feeling stellt sich in Adlershof bisher nicht ein. Zu weit sind die Brachen, die sich wie die Löcher eines Schweizer Käses zwischen den Instituten ausbreiten. Von der vielzitierten „urbanen Dichte“ keine Spur. Es entsteht aber auch keine Parkatmosphäre, wie sie die Areale der beiden anderen großen Berliner Universitäten FU und TU prägt. Auch das Gelände zwischen der Uni und dem neuen Stadtpark (Entwurf Gabriele Kiefer) auf dem ehemaligen Flugfeld von Johannistal bietet noch Entwicklungspotenzial. Ob und wann sich dort etwas tut, ist angesichts der leeren Kassen völlig offen.

Immerhin wissen die meisten neuen Institutsgebäude zumindest architektonisch zu überzeugen, auch wenn ihnen die zusammenbindende Stadtstruktur fehlt. Etwa der Neubau der Physik von Augustin und Frank Architekten: Ein klarer, dunkler Bau, der um mehrere Höfe herum gruppiert ist und im Inneren einen rauen Werkstattcharakter zur Schau stellt. Mit Spannung darf man abwarten, ob die zur Rudower Chaussee gerichtete „Grünfassade“ des Hauses mit ihrem expressiven Rankgerüst wirklich funktionieren wird: Sie soll nach Vorstellung der Architekten in den kommenden Jahren zu einer „grünen Wand“ zuwachsen.

Allzu bonbonfarben ist dagegen das benachbarte Chemie-Gebäude von Volker Staab geraten, das mit gelben Putzflächen und rot gefassten Betonelementen daherkommt. Ganz anders zeigen sich Benedict Tonons beinahe abgeschlossene Bauten. Denn zusätzlich zu einem bunt gescheckten Gefahrenstofflager in der Mitte des Universitätsareals hat er unmittelbar an der Rudower Chaussee drei gläserne Punkthäuser entworfen: Scharfkantig kristalline Bauskulpturen, deren Fassaden einen Knick aufweisen und so entweder leicht vor- oder zurückspringen. Das Ergebnis ist ein polygonaler Grundriss, der für eine bewegte städtebauliche Figur sorgt.

Zudem entfalten sich zwischen den sechsgeschossigen Bauten für Psychologen und Geografen kleine Plätze, die bis in die doppelgeschossigen Foyerzonen der Institute hineingezogen werden. Über zwei Geschossen mit Seminarräumen schließen sich jeweils vier Etagen mit Büros an, deren Flure wie die Flügel einer Windmühle organisiert sind. Über eine Brücke sind die Glasbauten jeweils mit einem langgestreckten, dreigeschossigen Gebäuderiegel verbunden. Dabei handelte es sich ursprünglich um Kasernen, von denen jetzt eine durch einen Neubau im „alten“ Gewand ersetzt wurde – freilich um ein Geschoss ergänzt. Durch den Material- und Formenkontrast zwischen den hohen Glashäusern und den flachen Riegeln will Tonon einen Dialog zwischen den Zeitschichten des Gebietes in Gang setzen.

Dieser Dialog zwischen historischem Bestand des Forschungs- und Militärstandorts und der neuen Wissenschaftsarchitektur kennzeichnet auch das Herzstück des Campus: das Erwin-Schrödinger-Zentrum. Der rund 35 Millionen Euro teure Bibliotheksneubau nach Entwurf von Daniel Gössler erinnert an den 1933 mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Physiker. Dank seiner vorgeschobenen Lage an der Rudower Chaussee wird der Bau künftig als architektonische Visitenkarte des Areals dienen. Als zentrale naturwissenschaftliche Bibliothek der HU finden hier über eine halbe Million Objekte Platz.

Bereits am Haupteingang wird deutlich, wie intensiv sich Gössler mit dem vorhandenen baulichen Bestand auseinander gesetzt hat: die Neubauten seiner Bibliothek sind zwischen die historischen Bauteile einer restaurierten Montagehalle eingefügt, deren Stahlträgerkonstruktion mit rotem Backstein ausgefacht ist. Das Ergebnis ist eine spannende Melange.

Der kleine, leicht abgesenkte Eingangshof, der zwischen den Bauteilen entstanden ist, besitzt eine fast intime Atmosphäre – genau der richtige Platz um den Kopf in einer Lesepause auszulüften. Kernstück des Gebäudes ist der großzügige Lesesaal mit seinen 380 Arbeitsplätzen. Als Referenz an die industriellen Altbauten wurde er ebenfalls als Stahlträgerkonstruktion ausgeführt. Der quadratische Bereich mit den Arbeitsplätzen ist als geistiger wie architektonischer Nukleus nochmals abgesenkt: Roter Teppichboden und Regale aus Holz lassen eine angenehme Arbeitsatmosphäre entstehen.

Es ist ein konzentrierter Arbeitsort, umweht von der Aura des Geistes, der einen Kontrast zu dem eher rauen, werkstattartigen Charakter im übrigen Gebäude schafft. Hoch über den Köpfen der Leser erstreckt sich derweil die mächtige Stahlkonstruktion, die von 18 Lichthäuschen bekrönt wird: Kuben, deren Glasfenster sich nach Nordost richten und so für die indirekte natürliche Belichtung des Saals sorgen. Freihandregale samt Galeriegeschoss umfassen in weitem Abstand die abgesenkten Arbeitsplätze. Zusätzliche Leseplätze gibt es an den Fenstern, teilweise als Arbeitsboxen aus Holz und Glas. Programmatisch für den Wissenschaftsstandort Adlershof fügen sich im Erwin Schrödinger-Zentrum Forschung für die Zukunft und gebaute Vergangenheit zu einer höchst gegenwärtigen Einheit zusammen.

Jürgen Tietz

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