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Talentierte Erzählerin. Die Autorin Sophie Stein.

© Sophie Stein

„Amanecer“ von Sophie Stein: Geister in Holzmustern

Sophie Stein legt mit „Amanecer“ einen traumverlorenen Debütroman vor. Sie erzählt darin eine rätselhaft-schöne Geschichte über die Verbundenheit aller Dinge.

Für das menschliche Hirn, so heißt es an einer Stelle, macht es keinen Unterschied, ob eine Empfindung durch etwas Materielles, durch Träume oder Erinnerungen ausgelöst wird. Dies ist das Grundmotiv, ja, die Prämisse von „Amanecer", der jüngsten Veröffentlichung aus der Diaphanes-Reihe „Forward Fiction“.

Gerade mal 25 Jahre jung ist Sophie Stein, die dieses rätselhaft-verschachtelte Werk geschrieben hat, das als „Debütroman“ firmiert, jedoch mehr einem fragmentierten Trip durch die Dunkelzonen des kollektiven Unbewussten gleicht.

Eben noch befinden wir uns in einer einlullenden Traumwelt, in der sich die Erzählerin als Kind erlebt, aus dessen Mund „gläserne Regenbogenfäden“ wachsen, „und ihre Eltern weben silberne Blumen daraus“, dann ist sie plötzlich auf dem Weg zum Berliner Flughafen.

Zunächst ist dieses Hin- und Hergleiten zwischen den Welten und Zeitebenen ziemlich verwirrend: Ein Flugzeug trägt die Ich-Erzählerin, die sich später als „Aziza“ vorstellen wird, über den Atlantik, hin zu einer fiktiven Insel, auf der Spanisch gesprochen wird.

Zugleich beantragt sie in der Rückschau im Auslandsbüro einer Romanistischen Fakultät ein Stipendium für einen Studienaufenthalt in Frankreich. Und von welchem Krieg, der vier Jahre her sein soll, ist eigentlich die Rede?

Luzide Träume von der verschwundenen Schwester

Man muss sich darauf einlassen, dass hier die Zeit nicht linear verläuft, dass sich Realitätsebenen und Identitäten beständig vermischen – auch wenn das Buch auf den ersten Blick ganz klar strukturiert erscheint, eingeteilt in spanische Tagesabschnitte, von „Amanecer“ (Morgendämmerung) bis „Noche“ (Nacht).

Der Archipel, auf dem Aziza landet, lässt sich mit Sicherheit nicht auf Google Maps lokalisieren. Vielmehr ist Nivaria als metaphysischer oder psychischer Zustand zu lesen, vergleichbar vielleicht mit dem Planeten „Solaris“ in Stanislaw Lems Science-Fiction-Klassiker – ein Ort, an dem die Natur verdrängte, vor allem schmerzbehaftete Erinnerungen der Figuren, die ihn besuchen, auferstehen lässt. Aziza befallen bald luzide Träume von ihrer verschwundenen Schwester und ihrer von einer namenlosen Krankheit heimgesuchten Mutter.

Unerklärliche Phänomene und magische Wahrnehmungen der Kindheit beschwört sie herauf, von „Geisterwesen in den Holzmustern unserer Wohnzimmertür“ ist die Rede, von „knisternden blauen Blitzen, die entstanden, wenn man nachts die Bettdecke über das Fell des Teddybären zog“.

Im Stil des magischen Realismus mischt sich Azizas Alltag auf dem Campus und in ihrer Studenten-WG zunehmend mit fantastischen Elementen. Steins expressive, von synästhetischen Sinneseindrücken geprägte Sprache erinnert mal an die sinnlich-enigmatische Prosa der brasilianischen Autorin Clarice Lispector, mal an Aufzeichnungen eines aus dem Ruder gelaufenen LSD-Experiments; Gerüche und Geräusche entwickeln bisweilen gar ein unheimliches Eigenleben: „Der Schlag, mit dem die Tür ins Schloss fällt, presst sich durch das Treppenhaus, reibt an den Wänden und Geländern und verharrt dann wie betäubt.“

Eine geheimnisvolle Gruppe junger Leute

Auch wenn man nicht allem, was geschieht, folgen kann, entwickelt Steins eigenwilliger Sound einen eigenen, düsteren Sog. In der ersten Hälfte gibt es zudem genug Wiedererkennungseffekte, die dabei helfen, sich nicht vollends in labyrinthischen Parallelwelten zu verlieren.

So die geheimnisvolle Gruppe junger Leute, zu der Aziza stößt: In einer Villa im Urwald züchten sie Schmetterlinge, füttern Moskitos mit Nasenblut und führen ominöse Traumexperimente durch.

[Sophie Stein: Amanecer. Roman Diaphanes Verlag, Zürich 2021. 192 Seiten, 18 €.]

Mal wirken die sieben Adepten und ihre unnahbare Mentorin wie verschrobene, harmlose Hippies, dann wieder wie eine wenig vertrauenswürdige Sekte – zumindest jedoch meinen wir all das zu kennen.

Auch das Traumlabor im Keller der Villa ruft vage vertraute Motive auf – man denke etwa an die schlafenden Soldaten in Apichatpong Weerasethakuls „Friedhof der Könige“ oder die Experimente mit Traum- und Erinnerungsbildern in Wim Wenders’ „Bis ans Ende der Welt“.

Der Roman knüpft an animistische Naturreligionen an

Die Frage, ob wir in einem Traum gefangen sind und die reale Welt nur mehr eine Simulation darstellt, ist zweifellos faszinierend. Sie hat schon viele Filme und Bücher inspiriert und getragen – in „Amanecer“ allerdings zerfasert die Story gegen Ende so sehr, dass sich auch die ihr zugrunde liegende Idee mit aufzulösen droht.

Geisterwesen raunen ominös von Energieknotenpunkten und „Universenschäumen“, Partygäste verwandeln sich in Schildkröten, Katzen sitzen im Café vor Schnapsgläsern oder stürzen sich massenweise aus Fenstern. Da wähnt man sich schon mal in einem schlechten Drogentrip und möchte nichts wie raus.

Wer sich jedoch auf die (Alp-)Traumlogik dieses Nicht-Romans einlässt, gewinnt, abgesehen von Steins sprachlicher Originalität und Raffinesse, ein neues Bewusstsein für die Verbundenheit aller Wesen und Dinge, anknüpfend sowohl an die Vorstellungen animistischer Naturreligionen als auch an tiefenpsychologische Erkenntnisse über unser Kollektivgedächtnis. Ungeahnte Welten entstehen etwa im „Mikrokosmos des Sandes“, während sich das Ich mit Pflanzen und Tieren, Ebbe und Flut, ja sogar der Erdkruste verbindet.

Tief im Innern fühlt es, wie die Kontinentalplatten auseinander driften und wieder gegeneinander knallen; beim Baden im Meer wird es von einem „grünen Ton“ in die Tiefe gesogen. Die hippieske Fantasie vom Einswerden mit dem Universum bringt eben nicht nur Glücksgefühle mit sich, sondern vor allem auch Trauer und Schmerzen. „Amanecer“ ist ein wundersames Buch, in dem es sich verlieren lässt. Nach der Lektüre bleibt festzustellen: „Die Welt in und zwischen den Dingen hat zugenommen.“

Anja Kümmel

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