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Kultur: Gelbe Kühe, blaue Reiter

Die Geburt des Neuen in der Kunst ist der Skandal. Vor rund 100 Jahren genügte es, eine Gruppe schlafender Männer und Frauen, nackt oder in Tücher gehüllt, auf einer zwei Meter zwanzig langen Leinwand in Öl zu malen, um Aufsehen zu erregen.

Die Geburt des Neuen in der Kunst ist der Skandal. Vor rund 100 Jahren genügte es, eine Gruppe schlafender Männer und Frauen, nackt oder in Tücher gehüllt, auf einer zwei Meter zwanzig langen Leinwand in Öl zu malen, um Aufsehen zu erregen. Heute läßt sich kaum nachvollziehen, weshalb zeitgenössische Juroren das 1890 entstandene Werk "Die Nacht" von Ferdinand Hodler als sittenwidrig einstuften. Wegen eines wohlgerundeten weiblichen Hinterteils? Oder wegen der alptraumverzerrten Miene des Mannes im Bildzentrum, auf dessen Leib eine schwarze Gestalt kauert? Was verbindet, was trennt den heutigen Blick von dem am Ende des letzten Jahrhunderts?Zwei Münchner Ausstellungen regen zu solchen Fragen an. Die Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung widmet sich mit einer Retrospektive den Spuren der Moderne im Werk des Schweizer Malers Ferdinand Hodler (1853-1918). Und die Städtische Galerie im Lenbachhaus rekonstruiert im Kunstbau vier Münchner Ausstellungen, die zwischen 1909 und 1912 den Beginn der Abstraktion markierten. Um 1890 galt München vor Berlin und Wien weltweit als Zentrum der aktuellen Kunst. 1892 war der "Verein bildender Künstler Münchner Secession" gegründet worden, Anfang 1909 die noch progressivere "Neue Künstler-Vereinigung München" (NKVM) um Wassily Kandinsky, Alexej Jawlensky, Gabriele Münter und Marianne von Werefkin. Schon bei der ersten Ausstellung - sie wurde am 1. Dezember 1909 in der Galerie Thannhauser eröffnet - zeigten sich Publikum und Kritiker schockiert: Zu viel Farbe und zu wenig Form sahen sie auf den Bildern der Italienerin Erma Bossi, des Franzosen Pierre Girieud und der Russen Jawlensky und Kandinsky. Der Kleingeisterei überdrüssig, trat Kandinsky nach heftigen öffentlichen Anfeindungen aus der Gruppe aus und organisierte zusammen mit Franz Marc die legendäre Ausstellung "Der Blaue Reiter". Was an den Bildern, die heute als Ikonen der frühen Avantgarde in internationalen Museen hängen, verstörte den Blick? Was war das beängstigend Neue? Die Fleißarbeit der Lenbachhaus-Kustoden, mit über 230 Leihgaben aus aller Welt die vier signalhaften Ausstellungen vor 90 Jahren in der Galerie Thannhauser so originalgetreu wie möglich im Kunstbau nachzuinszenieren, hat sich gelohnt. Denn die Schau führt vor, wie sich aus der Ornamentik des Jugendstils und der Farblichtmalerei der französischen Impressionisten allmählich das Neue herausschälte: die Abstraktion.Als "eine Neugeburt des Denkens" beschrieb Franz Marc, dessen Bilder "Die gelbe Kuh" und "Reh im Wald" neben Arbeiten von Delaunay, Jawlensky und Gabriele Münter zu den Höhepunkten der Ausstellung im Kunstbau zählen, das revolutionäre Moment am Anfang der Moderne. Die Kunst wolle "Symbole der eigenen Zeit schaffen", resümierte Marc damals. Auch Ferdinand Hodler verstand seine um die Jahrhundertwende gemalten Werke als "Monumente einer ausdrucksgeladenen Architektur" - die Porträts ebenso wie das allegorische Existenzbild "Die Lebensmüden" oder das großformatige Historienwandgemälde "Der Auszug deutscher Studenten in den Freiheitskrieg". Einen "Menschendarsteller, der durch den Körper die Seele zu gestalten weiß", lobte ihn Paul Klee, nachdem er eine Ausstellung mit Arbeiten Hodlers in der Münchner Galerie Thannhauser gesehen hatte. Kandinsky ging 1912 noch einen Schritt weiter und erkannte vor allem in Hodlers Gebirgs- und Seenlandschaften die Erneuerung der "melodischen Komposition". Tatsächlich rhythmisierte Hodler seine Figuren- und Landschaftsbilder in vertikal wie horizontal parallelen Linien. Der "Parallelismus der Form" entsprach für ihn dem "Parallelismus der Empfindung". Die Endlichkeit allen Daseins war sein eigentliches Thema, und damit auch bereits die erst von der Moderne postulierte Relativität der Existenz. Heute, nach dem Ende der Moderne, da keine weiteren Grenzen mehr überschritten, keine Tabus mehr gebrochen werden können, befindet sich die Welt erneut in einem Umbruch. Wieder ahnen die Künstler, wie es weitergehen könnte: mit einer neuen Vernetzung der vom Verstand zersetzten Welt.

Der Blaue Reiter und das Neue Bild, Städtische Galerie im Lenbachhaus, bis 3. Oktober; Katalog 98 Mark. Ferdinand Hodler, Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München, bis 10. Oktober; anschließend Von der Heydt-Museum, Wuppertal (24. Oktober bis 3. Januar 2000), Katalog 42 Mark, geb. 98 Mark.

EVA KARCHER

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