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Selbsternannter als „Wortizist“. Dichter Georg Leß im Aquarium.

© (c) privat

Lyrik von Georg Leß: Gerade Strecken sind uns nicht gegeben

Der Berliner Dichter Georg Leß entwickelt in seinem Band „Die Hohlhandmusikalität“ einen Sinn für sprachliche Wirbel.

Der markante grauschwarze Handschuh, der als Bleistiftzeichnung das Cover dieses Gedichtbands ziert, ist ein geheimnisvolles Objekt. Ist es ein deformierter Fehdehandschuh, den der Berliner Dichter Georg Leß hier der alten Ordnung der Lyrik hinwirft oder ein poetisches Wahrzeichen, das Schutz verheißt?

Die „Erkundung des Handschuhs“, die im Titelgedicht und einigen weiteren Texten des Bandes vorgenommen wird, gibt darüber keine klare Auskunft. Sicher ist zunächst nur, dass hier ein Dichter mit allen Kräften an der Dekonstruktion der altvertrauten poetischen Bildfügungen arbeitet. Als erstes Wort des Buches wählt Leß nicht zufällig die Präposition „gegen“. Insgesamt sind ein Dutzend Gedichte nach dieser teilweise paradoxalen „Gegen“-Struktur komponiert (beispielsweise „gegen die Anatomie“, „gegen das Geständnis“ oder „gegen die Ferne“).

Dysfunktionalität digitaler Geräte

In seinem zweiten Gedichtband „Die Hohlhandmusikalität“ (Kookbooks, 96 Seiten, 19,90 €.) – er debütierte 2013 mit „Schlachtgewicht“ in der Parasitenpresse – sucht Georg Leß nach solchen konsequenten poetischen Gegen-Bewegungen, mit einer Kombinatorik assoziativ sprungbereiter Bilder und im eigenwilligen Spiel mit klangverwandten Wörtern. Töne und Topiken, Melodien und Motive der poetischen Tradition werden von ihm in ihre Einzelteile zerlegt und dann, angereichert mit dicht gefügtem Gegenwartsstoff, zu spannungsreichen Konstellationen neu angeordnet.

Ein „Hochzeitslied“ zersprengt hier das Begehren der Liebenden und lässt es in der Dysfunktionalität digitaler Geräte zergehen. In den „Seefahrtsliedern“ kollidiert das Versprechen der unendlichen Fahrt mit der Wirklichkeit der Grenzbefestigungen und „legalem Stacheldraht“.

Produktive Unruhe

Die größte poetische Anziehungskraft in den sieben Kapiteln des Bandes entwickelt ein Zyklus poetischer „Wirbel“. Sie erinnern an die Bewegung des „Vortizismus“ (nach dem lateinischen „vortex“, das Wirbel bedeutet), die ab 1914/15 in den USA unter der Federführung von Wyndham Lewis und Ezra Pound für die Autonomie der Kunst und gegen einen dürren Realismus eintrat. So erklärt sich auch die Selbstpositionierung als „Wortizist“, die der Autor an einer Stelle einschmuggelt. Einige wenige Gedichte legen eine biografische Spur ins Sauerland, die Herkunftswelt des unter Pseudonym schreibenden Dichters, der im Hauptberuf als Psychologe arbeitet, und zu seiner großen Passion, die er bereits in einem großen Essay thematisiert hat: dem Horrorfilm. „Gerade Strecken sind uns nicht gegeben“, heißt es programmatisch im Schlussvers des „fünften Wirbels“.

Diese Vorliebe für „krumme Läufe“ und kalkulierte Bildbrüche sorgt immer wieder für produktive Unruhe. Bis sich jene Verwandlung vollzieht, die substanziellen Dichtern eigen ist: „mit jeder Silbe / ein anderer werden“.

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