zum Hauptinhalt
Jüdischer Charismatiker. Theodor Herzl.

© Imago/United Archives International

Geschichte des Zionismus: Der gescheiterte Prophet

Zionismus als Flucht vor dem privaten Unglück: Derek Penslar schildert das bewegte Leben des Schriftstellers und Visionärs Theodor Herzl.

Israelische Biografen Theodor Herzls legen ein unverhältnismäßiges Gewicht auf seine letzten sieben Lebensjahre. Das hat einen offensichtlichen Grund: 1897 schuf er der jüdischen Nationalbewegung mit dem ersten Zionistischen Kongress in Basel einen politischen Rahmen, der sich weit über seinen frühen Tod hinaus als haltbar erwies.

Aber auch aus einem weniger offensichtlichen Grund blickt man in Israel nicht allzu genau auf die ersten 35 Jahre seines kurzen Lebens. Herzl (1860-1904) kam in Budapest zur Welt, zog jedoch mit 18 Jahren nach Wien, wo er zunächst als deutscher Bühnenautor und Journalist reüssierte, bevor er zum jüdischen Politiker wurde.

Die Grundtexte des Zionismus – das Pamphlet „Der Judenstaat“, sein „Zionistisches Tagebuch“, der utopische Roman „Altneuland“ – sind deutsch geschrieben, und in Israels Gründerjahren, nach der Schoah und auch später, tat man sich schwer mit diesem kulturellen Kontext.

Derek Penslar, ein amerikanisch-kanadischer Professor für jüdische Geschichte, kennt solche Berührungsängste nicht. In seiner neuen vorzüglichen Biografie konzentriert er sich auf den MenschenTheodor Herzl. Dabei wird schnell deutlich, was die Historiografie eines jungen, aus der Asche des europäischen Judentums entstandenen Staates nicht wahrhaben konnte. Die „kurze, meteorhafte zionistische Karriere“ – wie Penslar Herzls letzte Lebensjahre treffend beschreibt – war eine verzweifelte Flucht nach vorne, in der er seiner persönlichen Tragödie zu entkommen suchte.

[Derek Penslar: Theodor Herzl – Staatsmann ohne Staat. Eine Biografie. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. Wallstein Verlag, Göttingen 2022.

256 Seiten, 24 €.]

Privatleben als Alptraum

Ihre Symptome sind überall sichtbar: In Herzls gespaltenem Verhältnis zu seinem Judentum; in den widersprüchlichen Rollen, die er als öffentliche Person spielte – zum einen als Feuilletonchef der Neuen Freien Presse, Österreichs größter bürgerlich-liberalen Zeitung, zum anderen als Führer einer politischen Bewegung, die den bürgerlichen Konsens unterlief; in seiner katastrophalen Ehe, die Herzls Privatleben zu einem Alptraum machte und auch seine Kinder verfolgte, die später teilweise Selbstmord begingen.

Es ist Penslars Verdienst, dass er sichtbar macht, wie Herzls öffentliche Wirkung aus seinem privaten Unglück hervorgegangen ist. Um die Jahrhundertwende erreichte Herzls zionistische Karriere ihren Höhepunkt, und dieses Kapitel nennt Penslar „Der Griff nach den Sternen“. Das hätte auch der Titel der Biografie sein können: Immer hat Herzl nach den Sternen gegriffen, nach dem Unerreichbaren. Aus der Unmöglichkeit der Ziele, die er sich setzte, gewann er die unendliche Energie, die er brauchte, um die tiefe Melancholie seines Lebens zu überwinden.

1891 kommt Herzl als Korrespondent seiner Zeitung für vier Jahre nach Paris, und im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts wird er vom Journalisten zum politischen Visionär, vom neutralen Beobachter gesellschaftlicher Zustände zu einem Mann, der diese Zustände aktiv verändern will. Er fasst eine spezifische Not ins Auge – die Not der Juden, die überall in West- und Osteuropa spürbar wird. Indem er sich als ihr Retter aus dieser Not präsentiert, nimmt er zugleich seine Selbstbefreiung vor.

Geniale Projektionen

Das ist der Unterschied zwischen Penslars Studie und Herzls zionistischen Biografien, die immer politisch motiviert sind und seinen verschiedenen „Lösungen“ der jüdischen Not das Maß ihrer eigenen Agenda anlegen. Penslar hat keine solche Agenda, und es geht ihm auch nicht um die „Lösungen“, die Herzl anzubieten hatte, sondern um seine zutiefst persönlichen Probleme, die er durch ihre geniale Projektion auf einen öffentlichen Raum zum Motor der zionistischen Bewegung machte.

Dass ihm das gelingen konnte, hat zwei Gründe: zunächst ein von vielen Zeitgenossen bezeugtes Charisma, das Herzl zu einer oft irrational verehrten Kultfigur werden ließ. Beispielhaft dafür ist eine späte Aussage Martin Bubers, der Herzls Politik zu dessen Lebzeiten keineswegs immer gebilligt hatte, zehn Jahre nach seinem Tod aber bekannte: „Nun fühle ich es, wie ich es noch nie fühlte: dass wir verwaist sind.“

Wichtiger aber noch ist der zweite Grund, der dieses Charisma erst wirksam machte: Die jüdische Not, der Herzl sich zuwandte, war nur allzu real, und viele wollten ihr entfliehen. Es gab um die Jahrhundertwende aber noch keine Lösung für sie, die wurde erst ein halbes Jahrhundert später möglich, als die Tragödie des europäischen Judentums ihr katastrophales Ende gefunden hatte. Weil ihnen nichts Handgreifliches gegenüberstand, konnten Herzls Visionen – seine Griffe nach den Sternen – ihre erstaunliche Faszination entfalten.

Überall hat Herzl für sein zionistisches Projekt geworben: bei den Türken und den Engländern, beim deutschen Kaiser und sogar beim Papst. Aber überall wurde er abgewiesen. Am Ende verzweifelte er, und zwei Jahre vor seinem Tod schrieb er den Roman „Altneuland“, in dem er eine utopische Gesellschaft freier Juden entwirft.

Seinen klugen Epilog hat Penslar in Israel geschrieben. Herzls Utopie hat sich nicht erfüllt – das konnte sie auch gar nicht. Stattdessen stellt Penslar dar, wie der historische Herzl im Judenstaat zu einem Mythos geworden ist. Wer wissen möchte, wie es dennoch zu diesem Judenstaat gekommen ist, der sollte neben der Biografie Theodor Herzls auch die eines Mannes wie David Ben-Gurion lesen. Doch das ist eine andere Geschichte.

Jakob Hessing

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false