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© dpa

Gesellschaft: Glaube, Lüge, Hoffnung

Der Soziologe Wolfgang Engler über die Krise des Kapitalismus und die Tugenden der Aufklärung.

Tränen, so heißt es, lügen nicht. Wer weint, hat prinzipiell recht. Er zeigt seine Verletzlichkeit und bittet um Nachsicht. Tränen sind ein Beweismittel: dafür, dass es einer ehrlich meint. Doch die Unternehmerin Maria-Elisabeth Schaeffler wurde verspottet, nachdem sie im Frühjahr vor ihren Beschäftigten geweint hatte. Man nahm der Milliardärin, die sich bei der Übernahme des Reifenherstellers Continental verspekulierte, ihre Betroffenheit nicht ab. Nicht besser erging es in der letzten Woche der Quelle-Erbin Madeleine Schickedanz. Sie bekannte in einem Interview, nach der Insolvenz des ArcandorKonzerns nun mit 600 Euro im Monat auskommen und ihre Lebensmittel beim Discounter einkaufen zu müssen. Schickedanz, bis vor wenigen Wochen eine der reichsten Frauen der Republik, stilisierte sich zum Opfer und hoffte – allerdings ohne Tränenfluss – auf Anteilnahme. Vergeblich. Ihre Offenherzigkeit wurde als Selbstmitleid wahrgenommen, geradezu als Hohn angesicht der sehr viel realeren Existenzängste der Quelle-Auslieferungsfahrer und Karstadt-Verkäuferinnen.

Es gehört zu den Paradoxien unserer Mediendemokratie, dass wir von unseren Eliten Authentizität verlangen, ihnen aber eher nicht glauben, wenn sie tatsächlich einmal versuchen, authentisch zu sein. Denn Seelenergüsse sind schnell dahingesprochen, und Tränen können eben doch lügen – wenn sie, statt von Herzen zu kommen, bloß dem Kalkül entspringen. „Nichts ist künstlicher, konstruierter als die pure Aufrichtigkeit“, schreibt Wolfgang Engler in seinem gerade erschienenem Buch „Lüge als Prinzip“. Allen Demonstrationen von Aufrichtigkeit muss also misstraut werden, trotzdem plädiert der Berliner Soziologe, der seit 2005 die Ernst-Busch-Schauspielschule leitet, für eine neue Kultur der – so der Untertitel – „Aufrichtigkeit im Kapitalismus“.

Denn das Gegenteil der Aufrichtigkeit ist die Lüge, und die Lüge hat den Kapitalismus dorthin gebracht, wo er sich jetzt befindet: in der Krise. Wobei die Lüge lange Zeit nicht aufgefallen war, sie hatte sich getarnt. „Jemandem unvermittelt ins Gesicht zu lügen, setzt eine gehörige Portion Kaltschnäuzigkeit voraus. Jemandem ,schlechte Schulden’ anzudrehen, mit Aktivposten gemischt, geht sehr viel leichter von der Hand“, konstatiert Engler. Seine Diagnose ist unerbittlich: „Die Schamschwellen der Unaufrichtigkeit liegen heute so niedrig wie nie zuvor in der Geschichte des modernen Kapitalismus. Die Täuschung segelt im Schatten weltumspannender Geld- und Warenströme und wird, dank dieser Deckung, gewohnheitsmäßig.“

Begonnen habe die Entwicklung mit dem Entstehen eines neuen Unternehmertypus, des sozial frei schwebenden Finanzjongleurs. Der Finanzjongleur – Franz Müntefering taufte ihn „Heuschrecke“ – ist ein „Unternehmer ohne Unternehmen“, er sucht unterbewertete Firmen, die er unterwandern, und kapitalbedürftige Erfinder, die er samt ihrer Ideen aufkaufen und später weiterverhökern kann. Auf althergebrachte Qualitäten wie Verlässlichkeit, Genauigkeit oder Ausgewogenheit kommt es nicht mehr an in diesem Wettkampf, es zählen nur noch die „Tugenden des Spielsaals“: Risikofreude, Lust am Raten, Wetten, Spekulieren.

Die Globalisierung führt zu labyrinthisch verzweigten Handlungsketten. „Die Risiken werden verschnürt, auf die Reise geschickt, gelöscht, umgeladen, mit neuem Etikett versehen, bis keiner mehr durchsieht.“ Es ist ein System ohne Gestern und Morgen. Größtmögliche Gewinnausschüttung ersetzt das Langfristdenken, Traditionen werden achselzuckend entsorgt. Mitunter erinnert Engler mit seinen Attacken auf das „neoliberale Denken“ an die Rhetorik der Linkspartei, aber im Kern folgt seine Argumentation wenig klassenkämpferischen, mitunter gar wertkonservativen Vorstellungen.

„Lüge als Prinzip“ ist kein eilig zur Krise geschriebenes Traktat, das Buch bohrt tiefer. Auf der Suche nach Auswegen aus den heutigen Verwerfungen landet Engler tief in der Geistes- und Kulturgeschichte. Dem Finanzjongleur stellt er als Komplimentärfigur den Bürger des 18. Jahrhunderts gegenüber, der bei seiner Emanzipation von der adligen Vorherrschaft einen eigenen Moralkatalog entwarf. Aufrichtigkeit, Vertrauen, Ehrlichkeit sind bis heute gültige Leitbegriffe der Aufklärung. Es gibt keinen anderen Weg, Vertrauen herzustellen, als „unserm Nächsten alles, wodurch sein Nutzen befördert oder sein Schaden abgewendet werden kann, frey heraus zu sagen“, heißt es in einem Lexikon von 1731.

Solche Selbstlosigkeit mag heute gutmenschenartig naiv wirken, damals ist sie revolutionär. Der Furor richtet sich gegen die Falschheit der höfischen Gesellschaft, gegen die Ausschweifungen und Intrigen des Barock, gegen Allongeperücken, Korsagenkleider, Rüschen und eine Sprache, die zum Instrument der Verschleierung geworden ist. „Die Sprache ist dem Menschen gegeben, um seine Gedanken zu verbergen“, merkt der französische Außenminister Talleyrand zynisch an. Napoleon, sein zeitweiliger Dienstherr, nennt ihn dafür einen „Dreckhaufen in Seidenstrümpfen“.

Der Mensch im Ganzen soll wieder „in der Wahrheit“ leben. Rousseau will ihn aus den Fesseln der Kultur befreien und in den „freien Hörsaal der Natur“ führen. Diderot und die Enzyklopädisten beschreiben Aufrichtigkeit als eine Utopie täuschungsfreier Kommunikation, bei der es darauf ankommt, nichts für sich zu behalten und so den anderen einen unverstellten Blick ins eigene Innere zu gewähren. In seinem Drama „Der natürliche Sohn oder die Proben der Tugend“ tritt Diderot selber als Figur auf, um zu bekunden, dass alles, was hier gespielt wird, tatsächlich so stattgefunden habe.

„Wahrhafte Empfindsamkeit“ wird zu einem moralischen Imperativ der Epoche. Briefromane – von Goethe, Choderlos de Laclos oder Laurence Sterne – erleben einen Boom, denn die Seele des Menschen scheint sich am stärksten in seinen Briefen zu enthüllen. „Empfindsame Konversationen“ finden allerdings auch außerhalb der Literatur statt, wobei es immer schwieriger wird, „echte Empfindung“ von bloß gespielter „geheuchelter Empfindelei“ zu unterscheiden. Tränen fließen schon aus kleinstem Anlass, etwa beim Abschied eines Freundes.

Der Homer-Übersetzer Johann Heinrich Voß hat 1773 in einem Brief an Ernestine Boje solch ein Melodrama beschrieben: „Der 12. September wird mir noch oft Tränen kosten. Es war der Trennungstag vom Grafen Stolberg und dem vortrefflichen Hofmeister Clauswitz. Wir hatten Punsch machen lassen, denn die Nacht war kalt. Jetzt wolten wir durch Gesang die Traurigkeit zerstreuen; wir wählten Millers Abschiedslied. Hier war nun alle Verstellung vergebens; die Tränen strömten und die Stimmen blieben nach und nach aus.“ Der Brief endet: „Ich kann nicht mehr, mein liebes Ernestinchen; die Tränen kommen von Neuem.“

Wolfgang Engler ist mit seinem luziden, bisweilen fast poetischen Essay ein kleines Kunststück gelungen: das historische Panorama einer Zeit, die unserer Gegenwart wie ein ferner Spiegel gleicht. Die Tränen von Maria-Elisabeth Schaeffler und Johann Heinrich Voß, so viel ist klar, ähneln einander. Wir wissen nicht, ob wir ihnen trauen können.

Wolfgang Engler: Lüge als Prinzip. Aufrichtigkeit im Kapitalismus. Aufbau Verlag, Berlin 2009. 214 S., 19,95 €.

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