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Hintergrund: Was ist der Islam?

Seine demokratische Bilanz ist bescheiden. Aber der Islam ist Teil Deutschlands, sagt der Präsident. Innere Spannungen muss er aushalten. So wie das Christentum auch.

WIE DEMOKRATISCH IST ER?

Eine Religion ist nie demokratisch. Sie versteht sich als Ergebnis göttlichen Wirkens und nicht als Resultat demokratischer Abstimmungen. Auch das Christentum ist nicht demokratisch und der Weg – zumindest der katholischen Kirche – in die europäische Moderne mit ihren individuellen Freiheitsrechten war von heftigen Krisen und Rückschlägen geprägt. Der Islam ist wie Christentum und Judentum ein über Jahrhunderte gewachsenes komplexes Wertegebilde, das einen breiten Kanon an ethischen Überzeugungen und Lebensregeln in sich trägt. Wie kompatibel der Islam mit den Idealen einer demokratischen Gesellschaft ist, hängt von seinem Wertefundus ab, aber auch von dem Willen der gläubigen Muslime, eine demokratische Gesellschaft anzustreben und das Potenzial ihrer Religion für Neuorientierung und Umdenken zu nutzen. So verfügt der Islam über eine Reihe von Grundprinzipien, die anknüpfungsfähig sind für eine moderne, demokratische Entwicklung: Entscheidung erst nach Beratung, unabhängige Urteilsbildung, Sorge für Arme und Schwache, Respekt vor gesellschaftlicher Ordnung sowie Sensibilität für Gerechtigkeit.

WIE IST SEIN VERHÄLTNIS ZUR DEMOKRATIE?

In der Realität fällt die demokratische Bilanz bisher sehr bescheiden aus. Länder mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit machen 25 Prozent aller Nationen auf der Erde aus, sind aber verantwortlich für 50 Prozent der autoritären Regime, argumentiert der Kairoer Hochschullehrer Moataz-Bellah Abdel-Fattah, der eine Studie über „Demokratische Werte in der muslimischen Welt“ geschrieben hat. Nach seinen Erhebungen gehören 70 Prozent aller politischen Gefangenen in der Welt dem muslimischen Glauben an. „Länder wie die Türkei, Malaysia, Indonesien und in geringerem Maße auch Senegal und Mali machen kontinuierlich Schritte hin zu mehr moderner Erziehung, Demokratisierung und wirtschaftlicher Entwicklung“, schreibt er. Die eigentlichen Problemfälle jedoch seien die 22 arabischen Staaten, Afghanistan, Pakistan, Bangladesh und Zentralasien sowie die muslimische Minderheiten in einigen afrikanischen Nationen.

So ist die arabische Region die einzige Staatengruppe der Welt, die seit Ende des Kalten Krieges unverändert autoritär geblieben ist und in der es kein einziges funktionierendes Beispiel für einen demokratischen Systemwechsel gibt. Die Bewertung im Index für politische Freiheit von Freedom House ist seit 1972 nahezu unverändert. Seit vier Jahrzehnten ist die Mehrheit der arabischen Staaten als unfrei eingestuft. Diese Demokratieresistenz hat mehrere Ursachen. Der in den USA lebende Historiker Elie Elhadj macht auch die islamischen „Gehorsamswelten“ mitverantwortlich, in denen arabische Menschen sozialisiert werden.

WIE TOLERANT IST ER?

Die historische Bilanz des Islam sieht insgesamt besser aus als die des Christentums – auch wenn die „islamische Toleranz“ über die Jahrhunderte hinweg die Unterwerfung von Christen- und Judentum unter die Ordnung der islamischen Mehrheit bedeutete. Heute allerdings greift dieses traditionelle Konzept zu kurz – sowohl im Blick auf das moderne Ideal der Religionsfreiheit, als auch als Leitfaden für die Auseinandersetzung islamischer Migranten mit christlich geprägten Mehrheitsgesellschaften in Europa und den USA. Historisch gesehen ist für den Islam ein Leben als zugewanderte, religiöse Minderheit eine relativ neue Erfahrung, anders als für das Judentum, das sich schon immer mit einem nicht-jüdischen Umfeld auseinandersetzen musste. Moderne Islamisten allerdings lehnen ein Recht auf individuelle Religionsfreiheit ab. In Zuwanderungsländern bilden sie daher Enklaven elitärer Rechtgläubigkeit, die auf die Mehrheitsgesellschaften herabblicken. In islamischen Ländern versuchen sie unter dem Schlagwort „Islam ist die Lösung“, allen Bewohnern ihre Werte und Lebensweisen aufzuzwingen.

WO SIND DIE GRENZEN DER TOLERANZ?

Der Islam erlaubt – anders als das Christentum – nur den Eintritt in seine Religion, nicht aber den Austritt. Ein Austritt wird nach islamischem Recht mit dem Tode bedroht und ist daher stets eine brisante Quelle von religiös motivierter Gewalt. Dahinter verbirgt sich die alte kosmologische Vorstellung, dass ein vom Glauben Abtrünniger den Zorn Gottes wecken und dadurch Unheil über alle anderen bringen wird. Entsprechend ist auch ein religiöser und moralischer Pluralismus nur innerhalb der Grenzen des islamischen Rechts und islamischer Moral möglich. Maßgebend dafür ist die Scharia, das religiös begründete Recht des Islam. Es umfasst unter anderem ethische Normen und Rechtsgebiete wie Erbrecht, Familienrecht, Prozessrecht, Staatsrecht, Steuerrecht und Strafrecht. In den meisten arabischen Staaten beschränkt sich die Scharia auf das Erb-, Ehe- und Familienrecht. Diese Länder haben ein duales Rechtssystem: Die religiösen Gerichtshöfe sind für das Personenstandsrecht zuständig, die säkularen Gerichte für das Zivil-, Prozess- und Strafrecht nach dem Vorbild europäischer Rechtssysteme. Einzige Ausnahmen sind Saudi-Arabien und der Iran, wo religiöse Gerichtshöfe auch das Scharia-Strafrecht anwenden. Beide Staaten fallen seit Jahrzehnten bei Menschenrechten, Justizwillkür und Todesstrafen besonders negativ auf. Im Iran kann politische Opposition als Gotteslästerung gewertet und mit dem Tode bestraft werden. In Saudi-Arabien fehlen gesetzlich fixierte Strafrahmen, weil neben der Scharia kein weltliches Strafrecht existiert.

WIE IST DAS VERHÄLTNIS ZU DEN MODERNEN MENSCHENRECHTEN?

Die Menschenrechte sind historisch im westlichen Kulturraum entstanden. Das bedeutet weder, dass ihr Geltungsanspruch deswegen auf die Herkunftskulturen beschränkt bleiben muss. Noch bedeutet es, dass die islamische Kultur sie nur dann implantieren kann, wenn sie implizit die westliche Lebensweise mitübernimmt. Die Menschenrechte sind kein zwangsläufiges Produkt des abendländischen Ethos. Sie haben eine lange und komplexe Entstehungsgeschichte. Die UN-Menschenrechtscharta bezieht ihre Legitimation zudem aus den ungeheuerlichen Gewalttaten des 20. Jahrhunderts.

Der Islam ist weder ein homogenes noch ein zeitloses Gebilde. Zwar ist sein göttliches Fundament, der Koran, nach dem Glauben der Muslime dem Propheten Muhammed vom Erzengel Gabriel offenbart worden. Er ist in ihren Augen also nicht ein von Gott inspiriertes menschliches Zeugnis, wie die jüdische Thora oder die christliche Bibel, sondern „ungeschaffen“ – nicht von Menschenhand geschrieben. Und das Arabische, in dem der Koran verfasst wurde, ist eine sakrale, unantastbare Sprache. Trotzdem sind menschliche Auslegung und Interpretation nicht überflüssig. Und so gibt es innerhalb des Islam genauso starke innere Gegensätze und Spannungen, wie sie auch Judentum und Christentum kennen. Auch Pauschalurteile im Sinne einer Unvereinbarkeit von Islam und Menschenrechten sind nicht gerechtfertigt – wenngleich die islamische Menschenrechtspraxis noch zu wünschen übrig lässt – angefangen von der minderen Rechtsstellung der Frauen über die Diskriminierung Andersgläubiger bis hin zur Verhängung brutaler Körperstrafen.

WIE MISSIONARISCH IST ER?

Der Islam beansprucht universale Gültigkeit und versteht sich als missionarische Religion. Der Ausbreitung des eigenen Glaubens dienen verschiedene Formen des Dschihad, was so viel wie Anstrengung für die Sache Allahs bedeutet. Dschihad kann eine innere, gedankliche Verurteilung einer unislamischen Handlung sein oder ein Wortgefecht mit einem Andersgläubigen. Es kann aber auch bewaffneter Kampf gegen Ungläubige oder vom rechten Glauben abgefallene Muslime heißen. Endziel ist eine islamische Ordnung für den ganzen Erdkreis. Die Realität sieht wesentlich nüchterner aus. Denn der Islam breitet sich weniger durch eine hohe Zahl von Konversionen aus, als durch den demografischen Zuwachs der muslimischen Bevölkerungen. So haben die arabischen Staaten die höchsten Geburtenraten der Welt. In Frankreich leben 60 000 Konvertiten, in Deutschland sind es rund 15 000, zwei Drittel von ihnen Frauen, die muslimische Männer geheiratet haben. Ein kleiner Prozentsatz allerdings wechselt zu radikalen Salafiten. Denn auch der Islam erlebt einen Übergang von traditionellen Formen des Religiösen zu fundamentalistischen und charismatischen Varianten. So ist die Zunahme von Männern mit Bärten und Häkelkappen sowie voll verschleierten Frauen vor allem Ergebnis dieser „inneren Missionierung“ des Islam.

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URSPRUNG

Der Islam entstand im 6. Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel, dem heutigen Saudi-Arabien. Er ist wie Christentum und Judentum eine monotheistische Offenbarungsreligion. Sein Stifter Muhammed wurde im Jahr 570 nach Christi Geburt in Mekka geboren. Nach seinem Tod kam es im Kampf um seine Nachfolge zu schweren Auseinandersetzungen und einer frühen Spaltung der Gläubigen in Sunniten und Schiiten.

GLÄUBIGE

Heute leben etwa 1,2 bis 1,5 Milliarden Muslime auf der Welt. Ihre religiösen Grundpflichten gelten als die „fünf Säulen“ des Islam – Glaubensbekenntnis, tägliches Gebet, Fasten im Ramadan, Almosen für die Armen sowie einmal im Leben die Pilgerfahrt nach Mekka.

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Der Stifter

Mit 40 Jahren empfing Muhammed zum ersten Male die Offenbarungen Gottes in einer Berghöhle nahe Mekka. In den folgenden Jahren bis zu seinem Tod diktierte ihm nach dem Glauben der Muslime der Erzengel Gabriel die Verse der göttlichen Offenbarung, den Koran. Das heilige Buch ist für die Muslime das unverfälschte Wort Gottes und deswegen die ranghöchste Quelle ihres Glaubens. Die zweite Erkenntnisquelle ist die Sunna – die Worte und Handlungen Muhammeds, des „Gesandten Gottes und Siegels der Propheten“.

Der Interpret
Der kürzlich verstorbene islamische Reformdenker Nasr Hamid Abu Zaid warb zeitlebens dafür, die heilige Schrift der Muslime müsse – wie die Bibel der Juden und der Christen – in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext interpretiert werden und dürfe nicht als wortwörtlich vom Himmel gefallenen sakrosankter Text angesehen werden. Nur so könne der Islam die Herausforderungen der Moderne meistern. Im Islam gehört viel Mut zu solchen Ansichten. 1995 zwangen islamische Fundamentalisten Abu Zaid von Ägypten ins Exil nach Holland.

Der Realist

Für eine Öffnung anderer Art warb bei seiner Rede am 3. Oktober Christian Wulff. Seit drei Generationen leben jetzt Muslime in Deutschland. Und sie beanspruchen zu Recht einen vollgültigen Platz in der Gesellschaft. Darum gehört für den Bundespräsidenten der Islam künftig genauso zu Deutschland wie zuvor schon Christentum und Judentum – eine Ansicht, die ihm in konservativen Kreisen der Bevölkerung wenig Freunde macht.

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