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Kultur: Goethe kann sich nicht mehr wehren

Wird künftig zweierlei Deutsch gelehrt und gelesen? Nach den Protesten von Schriftstellern und Verlagen gegen die Rechtschreibreform warnt ein Experte vor dem Chaos und plädiert für ein MoratoriumVON HORST HAIDER MUNSKEAls im Mai 1993 die deutschen Kultusminister eine öffentliche Anhörung zur Rechtschreibreform veranstalteten, war das Echo bei den Verbänden und in der Presse wohlwollend bis desinteressiert.

Wird künftig zweierlei Deutsch gelehrt und gelesen? Nach den Protesten von Schriftstellern und Verlagen gegen die Rechtschreibreform warnt ein Experte vor dem Chaos und plädiert für ein MoratoriumVON HORST HAIDER MUNSKEAls im Mai 1993 die deutschen Kultusminister eine öffentliche Anhörung zur Rechtschreibreform veranstalteten, war das Echo bei den Verbänden und in der Presse wohlwollend bis desinteressiert.Die Argumente der Rechtschreibkommissionen für eine systematische Neudarstellung und behutsame Reform der Rechtschreibung hatten auch die Mitglieder des Schulausschusses der Kultusministerkonferenz, die mit der Prüfung der Vorschläge betraut waren, weitgehend überzeugt.Allein von der Abschaffung der Großschreibung und der Unterscheidung zwischen das und daß wollten sie nichts wissen.Damit schien dem Übereifer der Reformer die Spitze genommen.Schon 1989 hatten sie weitergehende Vorschläge (Keiser, Bot) abgelehnt, und noch im November 1995 gelang es dem bayerischen Kultusminister, einige ungewöhnliche Fremdwortschreibungen zu streichen. War damit nicht genug Sorgfalt geübt worden? Wie kommt es vier Jahre später zu einer unaufhaltsamen Protestwelle gegen die am 1.Juli 1996 endgültig beschlossene Rechtschreibreform? Die Schriftsteller waren die ersten, organisiert von Friedrich Denk, der sich als Gymnasiallehrer und Vater betroffen sah.Inzwischen streben Bürgerinitiativen in drei Bundesländern einen Volksentscheid an.Juristen aller Parteien erzwangen eine parlamentarische Behandlung in fünf Bundestagsausschüssen.Linguisten geben ihren Widerspruch zu Protokoll.Woher die überraschende Wende? Auslöser der Proteste war zweierlei: Die neuen Rechtschreibwörterbücher, die nach dem Reformbeschluß der Kultusministerkonferenz in Millionenauflage auf den Markt kamen, sowie die sofortige Einführung der Reform an den Schulen Bayerns und anderer Bundesländer, zwei Jahre vor dem vereinbarten Termin im Herbst 1998. Die Überraschung war total.Auf einmal sollten völlig ungewohnte Schreibweisen gelten.Leidtun, wiedersehen, schwerbehindert, menschenverachtend künftig getrennt: Leid tun, wieder sehen, schwer behindert, Menschen verachtend (warum bloß?), Stengel und behende mit ä, das Adjektiv spinnefeind wird zum groß geschriebenen Substantiv, die neue Silbentrennung scheint ein Chaos, und überdies gab es Tausende von Unterschieden in den konkurrierenden Wörterbüchern: eine Fundgrube für Spott und Polemik, eine Qual für Lehrer und Verleger.Ist das neue Regelwerk so miserabel oder sind die Lexikographen so unfähig? Linguistische Kritiker verdammen das neue Regelwerk als Ganzes oder in Teilen.Am schwersten wiegen die Einwände gegen die Ausrichtung der Reform: Für vermehrte Großschreibung und vermehrte Getrenntschreibung, die - nach meiner Meinung - gegen die Grundstruktur unserer Orthographie und gegen die Sprachentwicklung verstoßen und darum intuitive Ablehnung erfahren.Hier ist die Reform keineswegs behutsam.Man kann über die Brauchbarkeit einzelner neuer Regeln streiten, eines aber steht außer Zweifel: Ihre Umsetzung in den Rechtschreibwörterbüchern hat - gemessen an der Eindeutigkeit des guten alten Duden - zu einem orthographischen Chaos geführt.Liegt das an den Regeln oder an den Lexikographen? Erste Analysen haben gezeigt, daß überall dort, wo neue Regeln in bester Absicht einen liberalen Spielraum lassen, die Wörterbücher verschieden entscheiden.Eines verzeichnet sämtliche Versionen der Silbentrennung, ein anderes wählt nach eigener Interpretation aus. Bereits beim Ausarbeiten der Wörterbücher traten offensichtliche Mängel des Regelwerks zutage.Weniger auffällig wäre dies geblieben, hätten wir nur ein einziges Rechtschreibwörterbuch.Der Verzicht auf den Duden als Leitwörterbuch aber hat eine Büchse der Pandora geöffnet - auch wenn es gute Gründe gegeben haben mag, das Verlagsmonopol auf die deutsche Rechtschreibung aufzuheben.Rückblickend erkennt man, was erforderlich gewesen wäre: eine Absprache und Kooperation der Rechtschreibkommission mit den Lexikographen.Hierfür hatten die Rechtschreibkommissionen den Kultusministern zwar das Bilden einer zwischenstaatlichen Kommission empfohlen.Sie sollte die Einführung der neuen Rechtschreibung mit Rat und Tat begleiten, die Verlage beraten, Auskünfte erteilen und auch die Einführung der neuen Rechtschreibung in den Schulen unterstützen.Auf der Wiener Rechtschreibkonferenz im November 1994 wurde das Einrichten einer solchen Kommission von Deutschland, Österreich und der Schweiz auch vereinbart.Berufen wurde sie jedoch erst im März 1997 - nachdem schon alle Wörterbücher auf dem Markt waren und in den Schulen einiger Bundesländer die neue Rechtschreibung bereits unterrichtet wurde. Alle Fragen der Umsetzung der Rechtschreibreform behielten sich die einzelnen Kultusministerien vor.Sie verfuhren mit der neuen Rechtschreibung, als ginge es um die Einführung neuer Lehrpläne oder revidierter Schulbücher.So kam es auch nirgends zu einem Probelauf in den Schulen, kein Lehrer konnte vor Einführung der Reform Erfahrungen mitteilen.Erst in der Praxis allerdings zeigt sich, daß zum Beispiel die liberale Kommaregelung bei Infinitiv und Partizip durchaus unerwartete und unerwünschte Auswirkungen hat: Die Schüler lassen die Kommata einfach weg.Eine wunderbare Vereinfachung, aber ein Verlust an Eindeutigkeit und Differenzierung in geschriebenen und gedruckten Texten.Völlig unnötigerweise wurden solche Vereinfachungen alsbald auch auf Texte deutscher Schriftsteller in den Schulbüchern angewandt.Erst der entschiedene Protest der Autoren hat dem Einhalt geboten.Doch Goethe und Schiller können sich nicht mehr wehren.So stehen in den Schulbüchern nun alte und neue Rechtschreibung nebeneinander. Wer eigentlich hat die deutschen Kultusminister legitimiert, ohne hinreichende Vorbereitung eine unerprobte neue Rechtschreibung zwei Jahre vor dem vereinbarten Termin in den Schulen einzuführen und damit zugleich einen Verkaufsboom unkoordiniert neuer Rechtschreibwörterbücher auszulösen? In höchster Eile mußten Kinder- und Jugendbuchverlage ihre Programme auf die Reform umstellen.Dem gleichen Zwang unterlagen die Schulbuchverlage. Anfangs ließen die Kultusminister noch erklären, es gehe ja nur um die Rechtschreibung in Schulen und Behörden.Im übrigen aber könne jeder schreiben, wie es ihm beliebe.Heute, nachdem offensichtlich geworden ist, daß sich der Schulorthographie auf kurze oder lange Sicht niemand entziehen kann, ist dieses Argument seltener zu hören. Der Protest der Schriftsteller, der gebildeten Öffentlichkeit, der Einspruch von Linguisten, Juristen, Verlegern und Lehrern richtet sich jedoch nicht allein gegen bestimmte Mängel der Rechtschreibreform, sondern vor allem dagegen, daß diese Interessengruppen von der Willensbildung um eine Reform ausgeschlossen waren.Denn die Rechtschreibung einer Sprache ist Besitz der ganzen Sprachgemeinschaft, Ausdruck kultureller Tradition und Medium unserer Identifikation mit der eigenen Sprache.Rechtschreibreformen sind deshalb immer ein Gegenstand öffentlicher Debatte.Sie können nur erfolgreich sein, wenn sie hinreichend legitimiert sind und zumindest von einer Mehrheit der gebildeten Öffentlichkeit akzeptiert werden. Andere Länder - etwa Frankreich - haben angesehene nationale Akademien, die bei solchen Fragen zuständig sind.Könnte man mit der Rechtschreibreform von vorne beginnen, wäre ein repräsentatives, beratendes Gremium beim Bundespräsidenten das geeignete Instrument, die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung aus der Sicht aller Betroffenen zu prüfen.Das scheint gegenwärtig utopisch.Die Kultusminister beharren auf ihren Beschlüssen und ihren Vereinbarungen mit Österreich und der Schweiz.Jetzt soll vielmehr die endlich - vor drei Monaten - einberufene zwischenstaatliche Kommission für die deutsche Rechtschreibung im Eiltempo, möglichst noch vor Beginn des nächsten Schuljahres, alle Zweifelsfälle der neuen Rechtschreibung durch eine Wörterliste beseitigen.Das Regelwerk selbst soll dabei sakrosankt bleiben: ein schier unerfüllbares Verlangen.Die Prozedur soll im übrigen, nahezu lächerlich, das zu berichten, "keine Mark" kosten.Wie gehabt sollen die Experten - allesamt Hochschullehrer im Massenfach Deutsch - ehrenamtlich, nur organisatorisch unterstützt vom Mannheimer Institut für deutsche Sprache, mit den mageren Ressourcen ihrer Lehrstühle die Arbeit verrichten.Bereits die ersten Beratungen haben gezeigt, daß der Vergleich der neuen Wörterbücher, eine Würdigung der Kritik und der zahlreichen Anfragen viel Zeitaufwand bedeutet.Selbst wenn man die Kritik mißachtet - was in meinen Augen unverantwortlich wäre - und allein die über tausend lexikalischen Abweichungen der neuen Wörterbücher auszugleichen versucht, kann das Regelwerk nicht bleiben, wie es ist.So oder so: Die neuen Rechtschreibwörterbücher, Schulbücher und Textsammlungen werden in wenigen Jahren als Grundlage der neuen Rechtschreibung überholt sein.Das ist das fatale Resultat einer sachlich umstrittenen, mangelhaft legitimierten, unvorbereitet und überhastet eingeführten Reform. "Die Reform ist tot", meldet die "Bayerische Staatszeitung" vom 6.Juni, "Die Reform ist nicht mehr aufzuhalten", behauptet der Präsident der Kultusministerkonferenz, Professor Wernstedt ("Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 19.Juni).Kontroverse Prognosen.Besonnene Beobachter raten zu einem Moratorium, zu einem Aussetzen der Reform.Dies ist den meisten Kritikern zu wenig.Sie fordern das Ende dieser - und jeglicher - Reform der Rechtschreibung.Den Kultusministern wiederum geht das Moratorium zu weit.Sie fürchten den schleichenden Tod ihres Projekts, weshalb sie jeder offenen Debatte ausweichen.Wer aber eine Reform will, muß jetzt die versäumte Debatte mit den Hauptbetroffenen nachholen, Fehler eingestehen und daraus lernen.Sonst bleibt allein der zweifelhafte Trost, daß die Geschichte der Rechtschreibreform die Geschichte von deren Scheitern ist. Horst Haider Munske ist Professor für Germanische und Deutsche Sprachwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg.Er ist Mitglied der zwischenstaatlichen Kommission für die deutsche Rechtschreibung.Zuletzt veröffentlichte er "Orthographie als Sprachkultur" (Peter Lang GmbH, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main, 1997).

HORST HAIDER MUNSKE

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