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Kultur: Goodbye, Stalin

Im Kino: „Seit Otar fort ist“ von Julie Bertucelli

Seit Otar fort ist aus Tiflis, er schlägt sich in Paris mit Gelegenheitsjobs durch, leben die drei Frauen allein zu Haus: Eka, Marina und Ada. Seine alte Mutter Eka (Esther Gorintin), eine hochgebildete Frankophile, freut sich über Anrufe und kurze Briefe, die der Sohn in französischer Sprache schreibt – und über das Geld natürlich, das er in den Umschlag steckt. Seine Schwester Marina (Nino Khomassouridze) kommt durch die georgischen Notzeiten, indem sie das Familiensilber auf dem Flohmarkt verscherbelt. Und Marinas Tochter Ada (Dinara Droukarova) liest der Großmutter am liebsten aus Proustscher Prosa und Otars gelegentlichen Briefen vor – wenn sie sich nicht gerade um ihre mögliche Zukunft als Dolmetscherin kümmert.

Ein sauber und sanft arrangiertes Gleichgewicht herrscht in dieser Frauenwohnung, in den zwei Jahren, seit Otar fort ist. Dann kommt zu der einen Abwesenheit die andere: der Tod. Otar ist, so erfahren es Marina und Ada, in Paris aus einem Fenster im fünften Stock gestürzt – und in der „Conservation“, einem baumlosen Grabplattenbau, von Amts wegen unter die Erde gebracht worden. Aber muss deshalb das Gleichgewicht der drei Frauen ein Ende haben, muss die alte Mutter von diesem Tod erfahren, wo doch Ada künftig Otars Briefe schreiben kann – Briefe, in denen keine Scheinchen mehr stecken, weil Otar zu wenig Geld hat, weshalb er auch nicht mehr telefoniert?

Großer Tragödienstoff. Und fast komödiantisch, diese Intrige zum Guten, die einer Lüge gleichkommt. Doch die 36-jährige Dokumentarfilmerin Julie Bertucelli umgeht in ihrem ersten Spielfilm beides: Das Tragische lässt sie allenfalls in knappen Schmerzenszeichen aufscheinen, und die Komik, die allerlei Verwicklungen heraufbeschwört, seit Otar zusehends unerklärlich fort ist, bremst sie durch eine zarte Gegendosis Rührung aus.

Wie Wolfgang Beckers „Good Bye, Lenin!“ lebt „Seit Otar fort ist“ von der gemeinschaftlichen Anstrengung, einer Mutter ihre heile Welt vorzuspiegeln. Nur wo Becker den Resonanzraum zeithistorischer Emotionen aushorchte, bleibt Bertucellis Debüt überwiegend im anrührend Privaten. Wenn sie die gesellschaftliche Lüge thematisiert, die Lebenslähmung einer Generation, die mit der Diktatur trügerisch Frieden machte, dann tut sie es behutsam, gezielt, konkret. Diese Lüge: Sie war das falsche Glück von Leuten, denen heute der Staat aus Not Wasser und Strom abdreht – und die nun sarkastisch ab und zu von Stalin schwärmen.

Sie habe das Porträt dreier Frauengenerationen drehen wollen, sagt die Regisseurin, aber so ganz überzeugt sie mit dieser auch kompositorischen Sehnsucht nach Gleichgewicht nicht. Zu sehr gilt ihre Sympathie, auch die Verve ihres Drehbuchs der Jüngsten, der Dinara Droukarova herb, zornig und zärtlich Statur gibt. Immer wieder zeigt die Kamera (Christophe Pollock), die sich gern in freundlicher Distanz hält, Ada aus der Nähe, berauscht sich an ihrem Lebenshunger, ihrer Rebellion. Irgendwann reist das Frauentrio nach Paris, dem großen Rätsel hinterher, seit Otar fort ist. Aber, auch dies hat Julie Bertucelli vorsichtig dem Leben abgeschaut, ein Rätsel erfüllt sich selten in seiner Auflösung; sondern durch ein unvermutetes Ereignis, rätselhaft klar.

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