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Kultur: Gott steckt im Detail

Mit The Verve stieg Richard Ashcroft zum Britpop-Superstar auf. Nun sucht er solo nach dem Sinn des Daseins

Sie nannten ihn „Mad Richard“. Den Wahnsinnigen. Er war der Sänger einer der erfolgreichsten britischen Rockbands der neunziger Jahre, ein arroganter Schamane mit dem Körper eines Knaben, den Lippen eines Fotomodels, der Nase eines Boxers und dem Bariton eines gefallenen Engels. Auf der Bühne bewegte er sich wie eine Schlange. Mit seinem Auftritt im Video zu „Bittersweet Symphony“ schlug er eine Kerbe in die kollektive Erinnerung: Auf dem überfüllten Gehsteig einer Großstadt bahnt er sich entschlossen seinen Weg, sein Blick ist nach vorne gerichtet, nichts und niemand kann ihn aufhalten. Den Mädchen brach er damit die Herzen, die Jungs kauften sich dieselben Schuhe wie er.

Als The Verve im Frühjahr 1999 auf ihrem kommerziellen Zenit auseinander gingen, hatte Richard Ashcroft genug Ausschweifungen und Dramen erlebt, um drei Menschenleben damit zu füllen. Mal musste er völlig dehydriert ins Krankenhaus eingeliefert werden, mal hörte er nach andauerndem Extasy-Konsum eine Milliarde Kinder schreien, mal streifte er als orientierungsloser Nomade durch Cornwall – ohne Obdach, ohne Geld und ohne Schuhe. Er spannte dem Sänger von Spiritualized die Freundin aus und trank zusammen mit Liam Gallagher Jack Daniels aus Halblitergläsern. Manches Ereignis war so beschämend, dass er bis heute nicht darüber sprechen mag. „Das Buch kann erst geschrieben werden, wenn ich tot bin“, kommentierte er die Umstände der Auflösung seiner Band, „The Verve, das war ein psychedelisches Abenteuer, das von vorne herein zum Scheitern verurteilt war.“

Allein mit dem Größenwahn

All das ist für ihn länger her, als es die messbare Zeit anzeigt. Vom Wahnsinn ist nicht viel übrig, nur ein bisschen Größenwahn. Aus dem Rockstar ist ein Hippie geworden, der seine Pillendiät aufgegeben hat und stattdessen auf milde Cannabis-Produkte und ballaststoffreiche Kost umgestiegen ist. Ashcroft lebt mit seiner Frau Kate, seinem zweijährigen Sohn Richard Junior, ein paar Hühnern, einem Pfau, einem Truthahn und drei Labrador-Hunden in Gloucestershire, einem dünn besiedelten Landstrich im Südwesten Englands. Das alte Landhaus aus dem 17. Jahrhundert, in das er sich vom Martyrium des Weltruhms zurückgezogen hat, bezeichnet er als sein „gregorianisches Mutterschiff“. Wenn er gerade mal nicht in seiner zum Studio ausgebauten Scheune sitzt und Songs schreibt, dann blättert er in den Schriften Aldous Huxleys, macht Waldspaziergänge und schaut zu, wie die Sonne untergeht. Im September feierte er seinen 31. Geburtstag. Sein zweites Soloalbum „Human Conditions“ (Virgin) klingt wie ein Alterswerk, beladen mit Meditationen über die großen Zusammenhänge des Lebens.

Schon mit seinem vor zwei Jahren erschienen Solodebüt „Alone with Everybody“ hatte er sich vom vulkanischen Stadionrock abgewandt, mit dem The Verve berühmt geworden waren, und sich mit aufwändig orchestrierten Midtempo-Stücken in eine Art Neil Diamond des Britpop verwandelt. Doch seine Themen blieben durchaus irdisch. Da ging es um einsame Abende in Hotelzimmern, um schlaflose Nächte in New York und um Geld, das verschwendet werden wollte. Inzwischen ist Ashcroft in ein Stadium ozeanischer Ausgeglichenheit eingetreten. Der hungrige junge Mann, der sich im Zorn an seiner Umwelt reibt, ist einem sanften Mystiker gewichen, der die tragische Schönheit des Werdens und Vergehens mit den Mitteln der Aufnahmetechnik zelebriert und seine Songs sorgfältig mit Bläsern und Chören beschichtet, um den großen kosmischen Einklang hörbar zu machen. „Can you hear what I’m saying“, ruft er im bombastischen Opener „Check The Meaning“ aus: „Got my mind meditating on love.“ Die Gitarre spielt dazu ein warmes Mantra, Streicher balsamieren Ashcrofts Seufzer ein. Ein paar Takte später klopfen Mohammed, Buddha und Jesus Christus an seine Tür.

Ashcroft ist nicht der einzige Musiker seiner Generation, der sich mit existenziellen Fragen konfrontiert sieht und den es zurück zur Natur zieht. Auch ein ehemaliger Politoxikomane wie Bret Anderson sieht neuerdings kerngesund aus und lobt mit dem aktuellen Album seiner Band Suede den neuen Morgen, der nach langer Nacht anbricht. Supergrass nahmen „Life On Other Planets“ in der französischen Provence auf, und selbst die sonst so morbiden Pulp stellten mit ihrer letzten Platte ganz ohne Ironie fest: „We Love Life“. Dass ausgerechnet diejenigen, die Mitte der Neunziger die Britpop-Revolution ausriefen, der Metropole London und ihrer Widersprüchlichkeit den Rücken kehren, um auf dem Land nach Reinheit und Harmonie zu suchen, mag mit der Enttäuschung über New Labour und Tony Blair zusammenhängen, der einen Aufbruch versprochen hatte, sich aber inzwischen in der Rolle des Feldherren zu gefallen scheint.

Es hat sicherlich auch etwas damit zu tun, dass ihre Musik und der damit verbundene Lebensentwurf an Zugkraft verloren hat. Die britischen Charts werden inzwischen von Nu-Metal-Bands wie Linkin Park dominiert. Ashcroft behauptet, sich nicht im Geringsten daran zu stören, dass er weniger Platten verkauft als mit The Verve. „Ich muss nicht alle paar Minuten meinen Manager anrufen, um zu erfahren, wie viele Kopien mein Album heute in Japan verkauft“, sagte er, als „Alone with Everybody“ erschien. „Ich bin auch so glücklich. Ich habe ein Haus, vor dem ich nachts die Sterne einzeln ausmachen kann, weil der Himmel nicht vom Licht der Großstadt orange schimmert.“

Arbeit an der Ewigkeit

Die Ewigkeit war für Ashcroft schon immer wichtiger als die Gegenwart. Es ist sein erklärtes Ziel, 15 bis 20 Songs zu schreiben, die auch in 100 Jahren noch gehört werden. Und nebenbei versucht er, die großen Zusammenhänge zu ergründen, seit er mit elf Jahren den Vater verlor. Sein Stiefvater war ein Illuminat der Rosenkreuzer und versorgte ihn mit Büchern über Telekinese, Astrologie, Chaostheorie und Wege der spiritituellen Selbstreinigung. Heute singt Ashcroft von reinen Flüssen, von perfekten Früchten und von Gott, den er in den Zahlen gesehen haben will. Bei so viel Esoterik fügt es sich dann auch prächtig, das mit Brian Wilson ein anderer großer Mystiker der Popgeschichte seinem Auftritt auf „Human Conditions“ bekommt und dem finalen Statement „Nature is the Law“ mit seiner Falsett-Signatur die nötige Entrücktheit verleiht. Bei der britischen Presse allerdings ist Ashcrofts Versuch, seinen diffusen Pantheismus zu artikulieren und daraus eine Gospelmusik zu machen, die in unsere Zeit passt, auf wenig Gegenliebe gestoßen: Seine Musik sei pompös und leer, und die Erkenntnis, die sich aus seinen Texten gewinnen ließe, beschränke sich darauf, dass das Weltall wirklich sehr, sehr groß sei. Doch es ist nicht die Weisheit der Worte, die seine Musik so ergreifend macht, sondern die Aura von Trost und Zuversicht, die sie vermittelt. Hierin kann sich „Human Conditions“ durchaus am Soul Marvin Gayes messen lassen. Man muss sich allerdings fragen, was nach einer Platte noch kommen soll, die sich wie ein Vermächtnis anhört. Ashcroft hat da schon eine Idee. Er möchte sein eigenes „Revolver“ aufnehmen.

Gänzlich von der Welt abkehren wird er sich sicherlich nicht. Dazu mangelt es dem Britpop-Star an Demut.

Richard Ashcroft spielt heute in der Columbiahalle, 21 Uhr.

Heiko Zwirner

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