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Kultur: Grandiose Seelenschau

Petrenko dirigiert die Berliner Philharmoniker

Der Traum, einmal die Berliner Philharmoniker zu dirigieren, wird für viele Dirigenten zum Albtraum: Nicht nur, dass die Musiker auf Debütanten launisch reagieren können – meist findet der Erstkontakt auch über Werke statt, die dem Orchester nicht gerade am Herzen liegen. Statt Strauss’ „Heldenleben“ oder Mahlers „Titan“ bleibt für die Neulinge das Repertoire, das der Chef und die Gaststars eben übrig lassen. Auch Kirill Petrenko, der zur Weltkarriere durchstartende Chef der Komischen Oper, hat sich so einen Problemfall ausgesucht. Rachmaninows zweite Sinfonie hat zwar die Dimensionen einer Mahler’schen, bietet aber statt deren welterklärenden Anspruchs nur eine geschlagene Stunde hemmungslos sentimentale Seelenschau. Wie schwer dieser Koloss über die Runden zu bringen ist, hatte am Abend zuvor das WDR-Orchester mit Semyon Bychkov gezeigt, denen die emphatische Melodik unter den Händen zerkrümelt war – ein Beweis, dass es mit einem kollisionsfreien Organisieren der Notenströme nicht getan ist.

Doch das weiß Petrenko ohnehin. Die Sinfonik der Jahrhundertwende, das Werk Zemlinskys oder Josef Suks war zuletzt ein Schwerpunkt seiner Programme – Musik, in der sich die Aufbruchssituation um 1900 mit ihren vor- und rückwärts gewandten Tendenzen spiegelt. Auch Rachmaninow gehört für Petrenko in diesen Kreis, als Bewahrer, der versuchte, das Dramaturgiekonzept der romantischen Sinfonik durch Ausweitung der Dimension in die Gegenwart hinüberzuretten. Alles ist groß dimensioniert an diesem Stück, und Petrenko dirigiert es als potenzierten Tschaikowsky: Von Anfang an entlockt er den Philharmonikern jenen warmen, dunkel grundierten Streicherton, der den weitausgreifenden Themen erst Atem und Gewicht gibt.

Zugleich aber markiert Petrenko (bei um entscheidendere Nuancen rascheren Tempi als Bychkov) das klassische Grundgerüst, auf das sich Rachmaninow stützt – die Charaktere von Einleitung, Kopfsatz, Scherzo und Finale treten bei ihm, auch dank stimmiger Temporelationen und souverän gestaffelter Dynamik, klar hervor. Ein Abend, der in der Philharmonie mit Bartóks zweitem Violinkonzert bereits grandios begonnen hatte: Auch Christian Tetzlaff ist ein Musiker, bei dem die Sinnlichkeit der Empfindung die Schranke der Reflexion passieren muss. Die folkloristischen Einsprengsel etwa spielt er mit nervöser Rastlosigkeit, gibt sich melodischem Reiz zwar hin, scheint seine Gültigkeit aber zugleich in Frage zu stellen. Einer, der nicht nur selbstgewisse Antworten gibt, sondern sich traut, Fragen zu stellen.

noch einmal heute, 20 Uhr.

Jörg Königsdorf

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