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Ach, wie gut. Rumpelstilzchen (Andreas Köhler) vor einer der Märchenhütten, in denen das Hexenkessel Hoftheater ab 6. Dezember „Gebrüder Grimm“ spielen wird, ein szenisches Märchen über die Märchensammler Jacob und Wilhelm Grimm.

© Kai-Uwe Heinrich

Grimms Märchen: Der Prinz hat Rücken

Rebellische Kids, lüsterne Zwerge, böse Erotik: Märchen sind nicht nur für Kinder da. Gerade Grimms Märchen, die vor 200 Jahren erstmals veröffentlicht wurden, sind bei Erwachsenen immer beliebter. In Berlin als Hochburg der Märchen eröffnet das Hexenkessel Hoftheater zum Jubiläum eine zweite Märchenhütte und präsentiert ein Stück über das Leben der Märchensammel-Brüder.

Von Sandra Luzina

Es war einmal eine alte Hütte im Wald, wo die Wölfe noch heulten. In einer Winternacht saß ein altes Weiblein darin und versuchte, das Feuer am Brennen zu halten. Da klopfte es und zwei dunkle Gestalten baten um Einlass. Das Weiblein fragte nach ihrem Begehr. „Wir wünschen ein Nachtlager – es soll ihr Schade nicht sein. Und vielleicht eine alte Kunde, eine Mär.“

Wenn man Jan Zimmermann, den kreativen Kopf des Hexenkessel Hoftheaters, bittet, in Märchenform von den Brüdern Grimm zu erzählen, dann kommt er schnell in Fahrt. Das Theater probt für die Premiere von „Gebrüder Grimm“, einem szenischen Märchen über das Leben und Wirken der Märchensammler. Gerade haben die Schauspieler der Doppelvorstellung „Der Wolf und die sieben Geißlein“ und „Rotkäppchen“ den Zuschauern zum Abschied zugerufen: „Habt acht, draußen sind Wölfe!“ In dieser verregneten Berliner Nacht in der Märchenhütte fühlt man sich von einem alten Zauber berührt.

Vor 200 Jahren, am 20. Dezember 1812, erschien die Erstausgabe der „Kinder- und Hausmärchen“. Als Jacob und Wilhelm Grimm ihr Projekt in Angriff nahmen, schwärmten sie nicht selber in die hessischen Wälder aus, sie ließen sich die alten Geschichten von „Märchenfrauen“ erzählen. So wie Zimmermann fabuilert, hat es sich natürlich nicht zugetragen: Die Hauptquelle der Grimms war eine ältere Dame, die Schneiderin Dorothea Viehmann – und junge Bürgerstöchter. Den anheimelnden Märchenton hat dann Wilhelm Grimm hinzugefügt.

„Er ist der Grund für den Welterfolg; die Geschichten selbst finden sich auch anderswo“, erklärt Märchenforscher Heinz Rölleke. Wie wichtig Märchen für die frühkindliche Entwicklung sind, legte schon Bruno Bettelheim in seinem Buch „Kinder brauchen Märchen“ dar. Auch Rölleke findet: Kinder, die ohne Märchen aufwachsen, sind arm dran. Für den Germanisten steht zudem fest, dass auch Erwachsene Märchen brauchen. Nicht nur ein Vierjähriger identifiziert sich mit den bedrohten Kindern in „Hänsel und Gretel“ und lernt, sich mit literarischen Figuren zu freuen und zu leiden, auch Erwachsene tun das.

Und was erlebt man mit Rotkäppchen und Aschenputtel? Prüfungen, Gefahren, Fehltritte – und immer geht es gut aus. „Das ist das Wunderbare: Es kann im Märchen endgültig nichts schiefgehen“, sagt Rölleke. Was viele nicht wissen: Märchen waren als Literatur für Erwachsene gedacht. Grimms Erstausgabe richtet sich ausdrücklich an sie, erst in späteren Fassungen werden die Märchen überarbeitet und enterotisiert. Die Kleinfamilie setzt sich durch, die Kinder werden zum Zielpublikum, und die Pädagogen stoßen sich daran, dass die Märchen so viel Gewalt und Sex enthalten. Also überarbeitet Wilhelm Grimm die Texte fortwährend, um der Kritik den Wind aus den Segeln zu nehmen. „Was man für anstößig hielt, wurde gemildert oder flog raus“, so Rölleke. Sogar ganze Geschichten werden geopfert, „Blaubart“ steht nur in der Erstausgabe.

Doch auch wenn die Texte an den Geschmack des bürgerlichen Publikums angepasst werden, predigen sie keine bürgerlichen Tugenden, sondern rufen zur Emanzipation auf. „Was macht das Mädchen im ,Froschkönig’? Es lehnt sich gegen den Vater auf, setzt sich durch und wird dafür belohnt. Die meisten Märchen sind Aufforderungen an die Mädchen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.“

Ausgerechnet das raue Berlin ist neuerdings die Hochburg der Märchensüchtigen. Zwei Märchenhütten stehen seit Sonntag im Monbijoupark in Mitte, benannt nach Jacob und Wilhelm. Die zweite Hütte war wegen der großen Nachfrage besonders bei Erwachsenen notwendig geworden. Das Repertoire umfasst 25 Märchen, der Rahmen bei den „Grimmies“ bleibt immer gleich: „Zwei Schauspieler, wenig Licht, keine Effekte und der Originaltext“, sagt Hexenkessel-Chef Zimmermann. Der Rest variiert. So wird die Gruselstory vom „Rotkäppchen“ nur in der Abendschiene präsentiert, in einer verschärften Version voller erotischer Untertöne. Zimmermann versucht, jeweils die älteste Fassung aufzutreiben. „Es wird etwas wachgeküsst durch die alte Sprache, die Leute fühlen sich ergriffen von etwas, was sie längst vergessen haben.“

Ein Grund für die Liebe zum Märchen ist wohl der Wunsch, wieder Kind zu sein. „Man ist immer noch das Kind, das man einmal war“, meint er, „ es wächst nur mehr an Erfahrung hinzu.“ Sehnen sich die Zuschauer auch nach einer verlorenen Bürgerlichkeit? „Märchen befriedigen die Sehnsucht nach einer Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat“, sagt Rölleke. Obwohl sie meist von Verwünschungen handeln. Leicht machen sie es ihren Lesern nicht: Hat ein Held Wünsche frei, muss er erst einmal etwas leisten. „Und wenn einer Wünsche erfüllt bekommt, der sie nicht verdient hat, dann wünscht er sich den Tod an den Hals. Die Menschen können mit Wünschen nicht umgehen. Da sind Märchen sehr realistisch.“

Mit Verwünschungen und Gegenzauber haben auch die Figuren bei Karen Duve zu tun. In ihrem Buch „Grrrrimm“ interpretiert sie fünf Märchen um und durchsetzt sie mit hinterhältigem Humor. Duve kreuzt Reales und Fantastisches, ihre Figuren kämpfen mit modernen Widrigkeiten. Schneewittchen l wird aus dem Blickwinkel eines der Zwerge erzählt, eines in jeder Hinsicht Zu-kurz-Gekommenen, der scharf ist auf die schöne Haushaltshilfe. In Duves Dornröschen-Variante übersteht der geduldige Prinz die 100-jährige Wartezeit und einen Bandscheibenvorfall, die Prinzessin in ihrem jugendlichen Hochmut verschmäht den alten Knacker jedoch. Und Rotkäppchen kommt aus zerrütteten Verhältnissen, sie ist der „Fußabtreter“ einer osteuropäischen Sippschaft und gerät über den Verein der Pfotenfreunde an ein bissiges Untier.

Auch die Geschlechterverhältnisse stellt Duve schon mal auf den Kopf, ihre Mädchen sind keine leichte Beute für männliche Alphatiere. Duve, diese durchtriebene Märchentante, und ihre abgründig-lustigen Grimm-Verfremdungen: garantiert nur für Erwachsene.

Hexenkessel Hoftheater, Monbijoupark, Mitte. Premiere von „Gebrüder Grimm“ am 6.12., wieder am 7., 8., 22. und 27.12., 20 Uhr. Infos: www.maerchenhuette.de

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