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"Love Fiction" von Rylon und The Agency.

© Piotr Rybkowski

Freischwimmer in den Sophiensälen: Großwildjäger wie wir

Beziehungsenhancement und Lifestyle-Blasen: Das Freischwimmer-Festival für Theater, Performance und Live-Art in den Sophiensälen steht dieses Jahr unter dem Motto "Family Affairs".

Opa war ein echter Draufgänger. Hat als Plantagenbesitzer und Großwildjäger in Deutsch-Ostafrika gelebt. Hat einen Roman auf Hemingways Spuren über seine Kolonialherrenzeit geschrieben, in dem er den „Eingeborenen“ die Sehnsucht nach Erziehung durch den weißen Mann attestiert. Und er hat später in Deutschland, wenig überraschend, eine Karriere als hoher SS-Scherge hingelegt. Als Aktivist der Deutschen Friedensunion fiel er nach dem Krieg mit rhetorisch rundgeschliffenen Pamphleten gegen die Wiederbewaffnung auf. Das nennt man ideologische Wandlungsfähigkeit.

Ebrechts Enkel Timo Krstin hat keine so bewegte Vita vorzuweisen. Er ist bloß Performer in der freien Szene geworden. Als Teil des Zürcher Kollektivs K.U.R.S.K. steht er in den Sophiensälen und gibt Opas Geschichte zum Besten. Mit bemerkenswerter Nonchalance wird der Umstand gestreift, dass Ebrecht wohl als Massenmörder für die Tötung von 1400 psychisch kranken Menschen in Polen verantwortlich war. Jede Familie hat halt ihre Leichen im Keller. Krstin forscht lieber nach Parallelen zwischen der eigenen und der großväterlichen Biografie – was in einer leicht larmoyanzverdächtigen Passage über die Wirksamkeit ideologischer Betätigung am Beispiel der Lichterkette und politischer Kunst im Allgemeinen mündet.

Auswege aus normativen Paarbeziehungen

Wenigstens aber hat die Performance „Leopardenmorde“ eine interessante Geschichte und Reibungsflächen. Das lässt sich nicht über jeden Beitrag des neunten Freischwimmer-Festivals sagen, das die Sophiensäle gemeinsam mit den freien Produktionsstätten FFT Düsseldorf, Mousonturm Frankfurt, brut Wien sowie Gessnerallee Zürich ausrichten. „Family Affairs“ ist der Jahrgang diesmal überschrieben. Und da denkt man schon: Ist es wirklich das drängende Thema der Zeit, dass wir „dem väterlichen Schicksal zu entkommen versuchen, während wir längst aussehen wie die eigene Mutter“ (Festival-Ankündigung)?

Aber gut, man kann den Familienbegriff natürlich auch freigeistig assoziativ auslegen. Die Gruppen Rylon und The Agency bieten in ihrer Produktion „Love Fiction“ zum Beispiel das an, was die Programmheft-Prosa „Auswege aus der normativen Paarbeziehung“ nennt und was in ihrer Eigenbeschreibung „post-pragmatisches Beziehungsenhancement“ heißt. Dahinter verbirgt sich eine Satire (vermutlich jedenfalls) auf Jargon und Gepflogenheiten einer Coaching-Branche, die immer obskurere Lifestyle-Blasen wirft. Hier soll man in einem Vierstufen-Prozess Antiromantik trainieren und Entfremdung genießen lernen. Das ist ja schön und gut. De facto sitzt man dann aber in einem aufblasbaren Zelt und fummelt wildfremden Menschen mit einem Pinsel im Ohr herum. Der Schrecken dieser Veranstaltung lässt sich wirklich schwer in Worte fassen.

Die Hoffnungen ruhen auf der zweiten Festivalhälfte

Was Anna Natts „Dame Goethel – It hurts to be beautiful“ mit Family Affairs zu tun hat, muss man wiederum dem Beipackzettel entnehmen. Ihre Großmutter war vom Rapunzel-Märchen entflammt, vermutlich wegen irgendwas Sexuellem darin. Weswegen die Enkelin jetzt begleitet von drei Harfenistinnen im Latex-Anzug vor dem Spiegel sitzt und sich das Haar kämmt, um dann auf Bein-Prothesen über die Bühne zu staksen. Wer schön sein will, muss leiden? So ein Murks.

Die Hoffnungen ruhen auf der zweiten Festivalhälfte (bis 19. November). Die Performerin Veza Maria Fernandez Ramos wird in „The Father Care Piece Piece oder: Keine Angst, Papa spielt Theater!“ ihre künstlerischen Papas um sich scharen. Und das Kollektiv Scriptedreality entwirft in „Wie wir es wollen“ ein „postapokalyptisches Soap-Setting“. Der Weltuntergang ist ja mittlerweile auch ein Thema für die ganze Familie.

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