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Kultur: Gruß vom Gipfel

KLASSIK

Wenige Werke widerlegen den Glauben an die eine, einzig gültige Interpretation so deutlich wie Mahlers Sinfonien: Von himmelhohem Jauchzen bis zu tödlicher Trübsal lässt sich so gut wie alles aus ihnen herauslesen – der Stein der Weisen ist hier ein ganzer Kieselhaufen. Zum Beispiel die Dritte: Abbado macht sie zum Seelenpanorama des Jahrhundertwende-Wien, Nagano zur Fortschrittsapotheose, Sinopoli sah in ihr das Zerfallsprodukt der beginnenden Moderne. Und Semyon Bychkov ? Der Russe hält sich mit dem ausgezeichnet disponierten Orchester der Deutschen Oper Berlin eng an das ursprüngliche Verlaufsprogramm Mahlers und spielt eine Natursinfonie, bei der aller Weltschmerz, alle Brüche außen vor bleiben.

Wie ein Jugendstil-Fries ziehen die ersten drei Sätze mit aufgelichtetem Streicherklang vorbei. Statt Mahlers Kontrastdramaturgie auszuspielen, reiht Bychkov zwanglos verspielte Episoden. Die Off-Stage-Trompetenrufe des dritten Satzes etwa, die so geisterhaft jenseitig klingen können, wirken hier eher wie ein heiterer Gruß vom benachbarten Berggipfel, der Trauermarsch-Gestus des ersten Satzes, anderswo unerbittlicher Schrittmacher, wird hier zum Schlenderindikator. Bychkovs Harmonisierungsstrategie irritiert zunächst, überzeugt dann aber umso nachhaltiger: Denn die großen Gefühle hat er sich für den Schluss aufgespart: Nach dem Altsolo (von Felicity Palmer mit majestätischer Schlichtheit gesungen) blüht der Klang zu romantischer Fülle auf, vollzieht sich in diesem Mahlerschen Liebesgesang tatsächlich die Verwandlung vom Naturhaft-Unbeschwerten zum Weltumspannend-Menschlichen. Ein großer Abend in der Deutschen Oper.

Jörg Königsdorf

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