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Kultur: Gutmenschen in Talkshowgewittern

Enthüllt wird heute alles.Intimität verschwindet.

Enthüllt wird heute alles.Intimität verschwindet.Doch unsere Gesellschaft leidet nicht am Fehlen von Tabus, sondern am exzessiven Wunsch nach herzerwärmender MenschlichkeitVON RICHARD HERZINGERDie von Peter von Becker im Tagesspiegel (vom 4.9.97) aufgestellte These, unsere Gesellschaft brauche wieder Tabus, fordert zum Widerspruch heraus.Es gibt keine Gesellschaft ohne Tabuzonen.Das gilt auch für unsere angeblich - in den Worten von Beckers - "durch und durch permissive und säkulare" Mediengesellschaft. Was den Kulturpessimisten als Entweihung der letzten Tabus erscheint, ist tatsächlich die fortschreitende Unterwerfung des gesellschaftlichen Lebens durch die "Tyrannei der Intitimität".Es dominiert heute, wie Richard Sennett schon in den siebziger Jahren festgestellt hat, "ein Mythos, demzufolge sich sämtliche Mißstände der Gesellschaft auf deren Anonymität, Entfremdung, Kälte zurückführen lassen.Diese Ideologie verwandelt alle politischen Kategorien in psychologische.Sie definiert die Menschenfreundlichkeit einer Gesellschaft ohne Götter: Menschliche Wärme ist unser Gott." Das Prinzip der herzensguten moralischen Korrektheit tabuisiert jede Abweichung von der Maxime, daß alles Sozialverhalten dem übergreifenden Ziel einer harmonisierten Gesellschaft zuträglich sein muß, in der sich sämtliche "authentische" menschliche Regungen offenbaren und miteinander koexistieren können.Zwar gibt es in unserer Gesellschaft eine starke Faszinationskraft des Bösen und großen Bedarf nach schockierenden Bildern von Gewalt, Katastrophen und Amoral.Aber das heißt keineswegs, daß der Gesellschaft der Maßstab dafür abhanden gekommen wäre, was sie für gut und böse erachtet, oder daß sie sich gar einem Kult der Schlechtigkeit verschrieben hätte. Im Gegenteil: Das große Interesse am Bösen ist Symptom einer exzessiven Sehnsucht nach dem allumfassenden Guten, die unsere Gesellschaft beherrscht.Die Flut der Schreckensbilder affirmiert und nährt diese Sehnsucht immer weiter.Die Bilder vom Bösen sind das Stimulans, das den symbiotischen Wunsch nach dem Sieg authentischer Menschlichkeit über alle Übel der Welt nur noch brennender werden läßt.Unsere Gesellschaft ist keineswegs "kälter" und "härter" als frühere Gesellschaften.Vielmehr ist es gerade der wachsende Anspruch auf eine allumfassende Präsenz wärmender Güte, an dem gemessen den Zeitgenossen die Wirklichkeit immer unmenschlicher und erbarmungsloser erscheinen muß. Charakteristisch für die Tyrannei der Intimität ist freilich, daß sie die Bandbreite sozialethisch zulässiger Verhaltensweisen extrem ausweitet.Einst stigmatisierte Neigungen wie die Homosexualität und selbst noch vor kurzem als krankhaft erachtete Erscheinungen wie Fetischismus oder Sadomasochismus werden jetzt als zulässige Spielarten einer "gesunden" Sexualität betrachtet, sofern sie bestimmte sozialhygienische und ethische Normen erfüllen.Zu diesen gehört, daß kein Beteiligter erniedrigt und gegen seinen Willen zu bestimmten Praktiken gezwungen wird, vor allem aber, daß er oder sie sich selbstbewußt zu ihnen als dem authentischen Ausdruck seiner innersten Natur bekennt.Alles scheint in die Harmonie der guten Gemeinschaft integrierbar, solange es ehrlich eingestanden und vor aller Öffentlichkeit erklärt wird. Der "Tabubruch" dient in dieser Gesellschaft nicht der bloßen Sensationslust, sondern der Einübung in das Ritual der Offenbarung der eigenen innersten Regungen.Es sind in erster Linie auch die Medien, die sich an dieser Moralisierung aller öffentlicher und privater Bereiche beteiligen.Häufig werden als Beispiel für eine enthemmte öffentliche Libertinage die neuartigen Fernseh-Talkshows der Privatsender angeführt, in denen Menschen noch ihre geheimsten persönlichen Probleme und Neigungen artikulieren dürfen.Doch indizieren solche Sendungen nur scheinbar eine wachsende Freizügigkeit der Gesellschaft in bezug auf individuelle Verhaltensweisen.Vielmehr dehnt die Öffentlichkeit auf diese Weise ihren Anspruch auf Kontrolle und Bewertung auf alle Sphären des Privatlebens aus.Was in solchen einschlägigen Talk-Shows geschieht, ist weniger die Befriedigung der Sensationslust der Zuschauer - was hier offenbart wird, ist bei genauerem Hinsehen wenig sensationell - als vielmehr die Anpassung noch der abweichendsten Verhaltenweisen an die normativen Vorgaben der Gesellschaft.Eine Domina zum Beispiel erhält dort das Plazet für ihre Tätigkeit, wenn sie glaubhaft machen kann, daß diese im Einklang mit dem Ziel der Emanzipation der Geschlechter stehe und dem Abbau gesellschaftlicher Aggressionen diene.Ein Mann, der sich als Freier von Prostitutierten outet, kann nur auf das Verständnis von Moderator und Publikum hoffen, wenn er seine Hochachtung vor dem therapeutischen Einsatzwillen bekundet, in dessen Genuß er in diesem spezifischen Zweig des Dienstleistungssektors gekommen ist. Dagegen setzte sich kürzlich in einer solchen Sendung eine junge Frau der lautstarken Verachtung des johlenden Publikums aus, als sie ankündigte, sie werde zwecks Förderung ihrer Karriere notfalls auch mit ihrem Chef ins Bett gehen.Dieser Tabubruch wurde nicht toleriert: Denn er verstieß gegen das Gebot, seine egoistischen Interessen in jedem Fall hinter moralisch verallgemeinerbaren Normen zu verbergen. Die Trauerorgie um Prinzessin Diana war ein beispielloser Ausbruch dieser Sucht nach dem makellosen Guten, das in unserer Gesellschaft mit der verletzlichen, ehrlichen und natürlichen Menschlichkeit gleichgesetzt wird.Heiliggesprochen wurde hier eine Engelsgestalt, die uns durch ihr Opfer den Weg der Umkehr zu einer unverbildeten Humanität weise.Sie war in dieser Sicht einerseits Opfer einer erstarrten, gefühllosen Tradition (des Königshauses), andererseits einer unmenschlichen, profitgierigen Geschäftswelt.Die messianische Aura der medialen Kunstfigur Diana profilierte sich somit gegen die beiden Antipoden, die die Ideologie des gesellschaftlich Guten als das in die Gemeinschaft der warmen Herzen Unintegrierbare ausschließt: die "Rückständigkeit", also das Festhalten an symbolischen Formen, die nicht dem absoluten Ideal "authentischer" Menschlichkeit verpflichtet sind, und der "entfesselte Egoismus" des "atomisierten Individuums", das nur noch seinen eigenen Vorteil suche und keine nichtmateriellen Werte mehr anerkenne.Das erste Negativprinzip, gegen das sich die Gemeinschaft des authentischen, egalitären Guten definiert, inkarnierte sich in der Queen und den mitleidlosen Royals, das zweite in den gnadenlosen Paparazzi und ihren ruchlosen Auftraggebern, die ihr hilfloses Opfer "in den Tod gejagt" hätten und aus ihm jetzt noch Profit zu schlagen versuchten. Die Medien liefern den Stoff, der die kollektiven Sucht nach unverstellter Güte befriedigt und fördert.Sie sind nicht die Produzenten, sondern nur die Vermittler der unersättlichen Integrationsgier, die die Öffentlichkeit auf der Suche nach der wahren Menschlichkeit entwickelt.Das Prinzip ihres Voyeurismus ist die Maxime, daß uns nichts Menschliches fremd sein darf und daß die arglose Humanität auch in intimsten Situationen, auch in Momenten der Schwäche und Verletzlichkeit nichts zu verbergen habe.Öffentliche Kultfiguren wie Lady Di existieren nur aufgrund dieses brennenden Wunsches des Publikums, seinen Idolen so nahe wie möglich zu sein und sich an ihrer Menschlichkeit zu wärmen, und es ist daher paradox, wenn sie gegenüber den Exekutoren dieses Wunsches, den Bildreportern, ihr Recht auf Intimität einklagen. Wir sollten uns hüten, aus zivilisationskritisch motiviertem ethischem Katzenjammer irgendeiner Einschränkung der Informationsfreiheit zuzustimmen.Nicht die Existenz von Bildern ist das Problem, sondern die Projektionen der Betrachter, die sich in ihnen manifestieren.Nicht Bilder sind böse, und nicht die bildgwordene Einsicht in die Realität des Bösen bedroht unsere Moral.Gefährlich ist vielmehr das alles verzehrende kollektive Begehren nach symbiotischer Güte, das die Schlechtigkeit nur als Störung auf dem Weg in eine Welt zu sich selbst gekommener reiner Menschlichkeit wahrnehmen kann - und dem Übel gerade dadurch Vorschub leistet.

RICHARD HERZINGER

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